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Archiv-Artikel

Talent für bunte Dinge

Der Texaner Andy Roddick hat in diesem Jahr schon 73 Siege gefeiert und damit mehr als jeder andere Tennisprofi. Auch beim Masters Cup in Houston steht er heute im Halbfinale

AUS HOUSTON DORIS HENKEL

Jeden Tag in dieser Woche ist Andy Roddick im Gang des Clubhauses an einer Fotogalerie vorbei gekommen. Eines der Bilder zeigt ihn nach seinem Sieg bei den US-Sandplatzmeisterschaften an gleicher Stelle vor dreieinhalb Jahren. Er war 18 damals, der große Pokal, den er in den Händen hält, ist einer der ersten seiner Karriere als Tennisprofi, und er präsentiert ihn mit einer Mischung aus kindlichem Besitzerstolz und Spaß an der Freud. Leute, seht her, was ich da gerade gewonnen hab …

Es ist ein nettes Bild, aber es erinnert auch daran, wie schnell man in diesem Geschäft älter wird. Der Andy Roddick von heute, mittlerweile 22, hat noch immer ein spitzbübisches Grinsen drauf, und für einen guten Gag ist er nach wie vor zu haben. Er ist spontan und schlagfertig, und das hat ihn inzwischen zu einer festen Größe im amerikanischen Fernsehen gemacht, nicht nur im Sportprogramm. Logisch, er war bei Leno und Lettermann, aber vor einem Jahr hat er sich sogar als Gastgeber der populären Comedy-Show „Saturday Night Live“ bewährt, und erst dieser Tage ist eine Kampagne des Sportsenders ESPN angelaufen, in der er mit Box-Weltmeister Lennox Lewis und mit Figuren aus den Star-Wars-Filmen wie R2-D2 oder C-3PO für die Sendung „SportsCenter“ wirbt.

Er hat Talent für die bunten Dinge des Lebens, da gibt es keine Frage, und wenn er müsste, könnte er seinen Lebensunterhalt vermutlich auch als Doppelpartner von R2-D2 verdienen. Aber so ist das natürlich nicht gedacht, denn in erster Linie ist er Tennisprofi; einer der Besten, war zwischen November 03 und Februar 04 ein paar Wochen lang nominell sogar schon die Nummer eins. Doch dann übernahm Roger Federer die Position, gab sie in einem fantastischen Jahr nicht wieder her, und deshalb muss Andy Roddick damit leben, dass er ein wenig ins Hintertreffen geraten ist. Der Sieg beim Masters Cup gegen Marat Safin (7:6, 7:6), mit dem er sich wie Federer schon nach dem zweiten Gruppenspiel für das heutige Halbfinale qualifizierte, war sein 73. in diesem Jahr – mehr, als jeder andere Kollege zu bieten hat, und auch mehr, als er selbst vor einem Jahr gesammelt hat. Vier Titel hat er in diesem Jahr gewonnen, aber bis auf das Mastersturnier in Miami war kein großer darunter, und – ungerecht, wie das manchmal ist – man erinnert sich vor allem an seine Niederlage im Wimbledon-Finale gegen Federer.

Ungerecht in doppelter Hinsicht, denn er hatte eine realistische Chance, dieses Spiel zu gewinnen, als es bei seiner Führung von 6:4, 5:7 und 4:2 zum zweiten Mal wegen Regen unterbrochen werden musste und Federer die Pause nutzte, um sich die Gedanken über die richtige Spielweise zu machen. 73 Siege in elf Monaten bisher – da kann Roddick nicht verstehen, wie manche Leute zu der Einschätzung kommen, das sei für ihn ein eher enttäuschendes Jahr. „Ich will das mal so höflich wie möglich beantworten“, meinte er neulich zu diesem Thema. „Wenn ich mit den meisten Siegen auf der Tour ein enttäuschendes Jahr habe, dann nehme ich das. Demzufolge müsste dann alles, was nicht enttäuschend ist, eine Menge Spaß machen.“

Aber vielleicht verwirrt ihn auch etwas anderes. Er ist gern gesehener Stammgast im Westside Tennis Club, betrachtet sich als überzeugten Texaner – er hat sechs Jahre seiner Kindheit im nahen Austin verbracht und ist vor einem Jahr nach dem Kauf eines großen Hauses am Lake Austin dorthin zurückgekehrt –, und doch war er bisher nicht der umjubelte Star beim Masters Cup. Sicher, er hat in Houston wie überall in den USA eine Menge Fans, aber von der Popularität eines Andre Agassi ist er meilenweit entfernt. Mehr noch: Es scheint erstaunlich viele Leute in der Gegend zu geben, die mit dem eher zurückhaltenden, europäischen Künstler Federer mehr anfangen können als mit dem all-American Kid Andy Roddick. In Houston trafen sich Zuschauer wie Tennislehrer Sig Garret aus Lincoln in Nebraska, der mit dem Auto 15 Stunden lang quer durch drei Bundesstaaten gefahren ist, um seinem Sohn zu zeigen, wer der beste Tennisspieler der Welt ist und warum. „Wir sind nur hier, um Federer zu sehen“, gab Garret zu.

Falls sich Roddick und Federer Sonntag im Finale begegnen sollten, sieht die Sache vielleicht wieder etwas anders aus; die Texaner sind ein sachkundigeres Publikum als die vergnügungssüchtigen New Yorker bei den US Open und lassen sich von Leistung überzeugen. Für ein Bild von Andy mit dem Masters Cup 2004 wäre im Gang des Clubhauses allemal Platz. Schließlich ist er doch einer von ihnen: Hat zuhause einen Pool-Billard-Tisch in der Eingangshalle stehen, liebt Wochenenden mit dem eigenen Boot am See und bestellt im Kaffeeladen geeisten Latte Macchiato mit Karamel.