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Archiv-Artikel

„Meine Partei geht in die falsche Richtung“

Ein Interview mit dem streitbaren CDU-Politiker Heiner Geißler über seine Partei und deren Nächstenliebe

Bremen taz ■ „Was würde Jesus heute sagen? Die Politische Botschaft des Evangeliums“ ist der Titel des neuesten Buches von Heiner Geißler. Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Würde des Menschen. Am Donnerstag liest Geißler daraus in der Reihe „Querdenker“ im Kito-Vegesack. Wir wollten wissen, wie „quer“ der 70-jährige CDU-Politiker und Buchautor Geißler denkt.

taz: Die rot-grüne Bundesregierung ist derzeit wieder einmal extrem unpopulär. Aber wenn Angela Merkel die Ratschläge der Herzog-Kommission umsetzen würde, wäre sie es genauso.

Geißler: Das Unpopuläre in der gegenwärtigen Parteipolitik hängt mit der mangelnden Glaubwürdigkeit zusammen. Ideen, Reden und Handeln klaffen auseinander.

Die Bundesregierung sagt, dass sie unpopuläre Dinge machen muss.

Die Leute sind bereit, Opfer zu bringen. Aber sie wollen den Sinn dieser Opfer begreifen, und sie wollen, dass es einigermaßen gerecht zugeht. Beide Bedingungen werden derzeit nicht erfüllt.

Der Kuchen reicht nicht mehr wie früher für alle. Kann man in diesen Verteilungskampf gehen mit der politischen Botschaft des Evangeliums unter dem Arm?

Ohne ethisches Fundament wird die Politik flatterhaft, wetterwendisch und dann gibt es alle acht Tage eine neue Reform. Aus der Botschaft des Evangeliums kann man ein ethisches Fundament wiedergewinnen: Das Humane des christlichen Menschenbildes, das keine Kategorisierung von Menschen zulässt, und den Grundsatz der Solidarität. Das heißt: Alle stehen für den ein, der in Not ist und sich nicht mehr helfen kann. Dazu gehört, dass der Stärkere zu der Solidarität mehr beitragen muss als der Schwächere. Im Moment wird genau das Gegenteil gemacht.

Am Solidarprinzip in der Krankenversicherung wird gerade gesägt.

Wir müssen die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme befreien von der Anbindung an den Lohn. Vor allem meine Partei geht aber in der Krankenversicherung in die falsche Richtung, nämlich in die amerikanische. Sie will das Risiko Krankheit privatisieren: Jeder soll selbst dafür sorgen, etwa mit einem Kapitalstock. Aber was ist, wenn der Kapitalstock kaputtgeht? Dieser Weg ist falsch. Richtig wäre der Weg der Bürgerversicherung: Alle zahlen von allem für alle. Die CDU hat diesen Weg aus mir völlig unverständlichen Gründen abgelehnt. Das führt dazu, dass die Wahlkampfauseinandersetzung für die CDU sehr schwierig wird. Bei der Auseinandersetzung mit der Bürgerversicherung hat die „Kopfpauschale“ wenig Chancen.

Beim Streit um das Zuwanderungsgesetz hat Ihre Partei auch den Weg der Nächstenliebe verlassen?

Die Nächstenliebe ist im Evangelium genau definiert. Wir sind die Nächsten für die, die in Not sind. Wir müssen nicht die ganze Welt lieben oder jedes Mitglied eines Vereins oder einer Partei. Wir können nicht die ganze Not der Welt auf unseren Sozialämtern lösen, aber wir können etwas gegen die Ursachen der Migration tun: Armut, Ökokatastrophen, Bürgerkriege.

Gerade unter Liberalen gibt es die Ansicht, dass zuviel Nächstenliebe den Leistungswillen untergräbt.

Das ist die Ideologie der Marktfetischisten. Das widerlegt sich selber. Eine Gesellschaft funktioniert nicht wie eine Schraubenfabrik. Es gibt in einer Gesellschaft leistungsfähige Menschen und Kinder, alte Menschen, Behinderte. Die soziale Marktwirtschaft war ja ein Bündnis des Ordo-Liberalismus der Freiburger Schule mit der katholischen Sozialethik und kannte nur eine Parole: Wohlstand für alle. Nicht nur für zwei Drittel. Der pure Kapitalismus ist in Amerika gesellschaftspolitisch bereits gescheitert. Pro 100.000 Einwohner finden 12 Kapitalverbrechen statt. Bei uns sind es 1,5. In Amerika sind 25 Prozent der Leute Analphabeten. Analphabetismus und Kriminalität sind immer die Folge von Armut, und diese hat politische Ursachen.

Lesung: 4.12., 20 Uhr, im Kito.