: Wenn Krieger krank werden
354 Bundeswehrsoldaten kamen mit psychischen Störungen aus dem Auslandseinsatz zurück – Hilfe finden sie im Bundeswehrkrankenhaus in Hamm
AUS HAMM LUTZ DEBUS
Schreiende Menschen, rennende Menschen, Verletzte werden auf Tragen fortgeschafft. Rauch steigt aus dem Torso eines Busses, ausgebrannt, verformt. Das war in Kabul am 7. Juni des vergangenen Jahres. Ein Selbstmordattentäter sprengte sich neben einem Mannschaftstransporter der Bundeswehr in die Luft. Drei Soldaten waren sofort tot, einer erlag wenig später seinen Verletzungen, alle 29 weiteren beteiligten Soldaten wurden mehr oder weniger schwer verletzt und mussten ärztlich versorgt werden.
Der Psychologe Klaus Wothe war kurz nach dem Attentat am Ort des Geschehens. Auch er sollte, wie die Soldaten in dem Bus, an jenem Tag nach Hause fliegen. Als Spezialist für die psychologische Betreuung von Traumatisierten blieb er noch einige Tage in Kabul, versuchte zu helfen, so gut es ging. Für den 54-Jährigen war es das Bewegendste, was er bei der Bundeswehr bislang erlebte.
Das Bundeswehrkrankenhaus liegt idyllisch in einem Park im grünen Osten von Hamm. Die Architektur des Gebäudes verrät seine Vergangenheit: Erbaut wurde das Haus als Wehrmachtslazarett Mitte der Dreißiger Jahre. Vom Hauptgebäude geht es durch einen langen Gang zum Seitentrakt. Türen wie in alten Krankenhäusern – ein weiß lackierter Holzrahmen, darin Scheiben aus Milchglas. Dünne, vertikale, durchsichtige Streifen im Glas lassen nur erahnen, was sich hinter der Tür abspielt. Hier ist die Psychiatrische Ambulanz untergebracht.
Klaus Wothe und der Leiter der Ambulanz, Oberfeldarzt Klaus Siepmann helfen hier Traumatisierten. Bundesweit leiden 354 Soldaten nach einem Auslandseinsatz an einer so genannten „Posttraumatischen Belastungsstörung“. In Hamm wurden bislang etwa 50 behandelt. Diese Zahlen erscheinen nur hoch. Im Verhältnis zu der Zahl der Soldaten, die seit 1996, seit dem ersten Einsatz im ehemaligen Jugoslawien, im Ausland waren, ist sie niedrig. In der Gesamtbevölkerung leiden, so Wothe, prozentual mehr Menschen an dieser Erkrankung als unter den Soldaten. Im Zivilleben seien Unfälle, Verbrechen und Katastrophen häufiger als bei den bisherigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Und deshalb betreuen Siepmann und Wothe auch Patienten aus dem zivilen Bereich: Polizisten nach Schusswaffengebrauch, Feuerwehrleute nach dramatischen Einsätzen, sogar Angestellte der Stadtwerke, die von einem aufgebrachten Kunden zusammengeschlagen wurden.
Nicht nur beim Radar, dem Penicillin oder Internet war das Militär Pionierland für Neuheiten. Auch die Forschungsarbeit mit traumatisierten Seelen, mit Menschen, die Katastrophen erlebt haben, begann bei den Uniformierten. Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg beobachteten Ärzte bereits, wie Soldaten unter Herzbeschwerden litten, die keine körperlichen Ursachen hatten. Nach 1918 wurde der Begriff der „Kriegszitterer“ bekannt: Keinen neurologischen Befund hatten diese Männer, die teilweise den Löffel nicht mehr zum Mund führen konnten. Erste detaillierte wissenschaftliche Untersuchungen machte nach dem Jom-Kippur-Krieg die israelische Armee. Mitte der achtziger Jahre wurde, zunächst in den USA, die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung anerkannt. Nach dem Vietnamkrieg setzten sich Veteranenvereinigungen dafür ein, dass diejenigen Soldaten, die psychisch auffällig wurden, zu Hause deshalb nicht mehr Fuß fassen konnten, nicht als Drückeberger abgestempelt wurden. In Europa war es zuerst das norwegische Militär, das sich mit dieser Frage beschäftigte – Norwegen beteiligte sich schon früh an vielen Auslandseinsätzen. Ende der Achtziger Jahre gab es erste deutsche Forschungen zur Posttraumatischen Belastungsstörung. In Folge der ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr wurden sie intensiviert.
Klaus Siepmann ist heute 60 Jahre alt, 14 Jahre war er Mitglied der NATO-Arbeitsgruppe für Militärpsychiatrie. Beeindruckt hat ihn eine vergleichende Studie über amerikanische Vietnam-GIs und sowjetische Afghanistanveteranen. „Da gibt es viele Gemeinsamkeiten. Menschliche Seelen sind ideologisch nicht so verschieden.“ Welche Traumata aber haben Bundeswehrsoldaten erlebt? Das Attentat in Kabul sei sicherlich das spektakulärste gewesen, so die Fachärzte. Aber auch sonst sind Auslandseinsätze keine Routine. Sanitäter, die Schwerverletzten halfen, Feldjäger, die einen Leichenfundort absperrten oder Massengräber bewachten, Kampfmittelräumer, die Minen entschärften – sie alle können eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Hinzu kommen eher profan wirkende Faktoren: Schlafentzug, Lärm, Hitze, Trennung von der Familie.
Wichtig ist für Wothe und Siepmann die Prävention. Vor dem Einsatz werden die Soldaten auf traumatisierende Situationen vorbereitet, – trainiert. Während des Einsatzes ist es deshalb wichtig, dass die Soldaten einen guten Kontakt untereinander und auch zu ihren Familien haben. Kommunikation über Telefon, Post und E-Mail nach Hause muss täglich ermöglicht werden. Die Verpflegung und Unterbringung sollte gut sein. Familienbetreuungszentren kümmern sich in der Heimat um häusliche Probleme; da mäht dann schon mal die Bundeswehr den Rasen, wenn Vater in Bosnien Dienst schiebt und seine Frau mit den Kindern genug zu tun hat. Fast stellt sich die Frage, wo der preußische Kommiss mit seinem Drill bleibt? Galten nicht schlecht gelaunte Krieger als gute Krieger? – „So können sie heute keine Menschen mehr führen“, sagt Wothe.
Wenn trotz Training, trotz aller Prophylaxe eine Katastrophe passiert? Dann verfügt jeder Bundeswehrarzt über all die Medikamente, die auch ein Psychiater verschreibt. Tranquilizer, Beruhigungsmittel werden verordnet, wenn der erste Schock anders nicht zu bewältigen ist. Klaus Siepmann erklärt, dass diese Präparate nur in Krisensituationen gegeben werden. Für längeren Gebrauch seien sie nicht zu gebrauchen, zu schnell werde man süchtig nach ihnen. Für länger andauernde, schwere depressive Zustände werden Antidepressiva verordnet. Und für den seltenen aber nicht unmöglichen Fall, dass sich in Folge erlittener Traumata Wahnideen bilden, Halluzinationen auftreten, verfügt die Apotheke auch über so genannte Neuroleptika, Psychose hemmende Medikamente. Soldaten, denen Psychopharmaka verordnet werden, werden dienstunfähig geschrieben.
Natürlich, so Siepmann, sind Medikamente nur flankierend zu einer psychotherapeutischen Behandlung zu verordnen. Drei Kernsymptome treten bei der Posttraumatischen Belastungsstörung auf. Intrusion bedeutet, dass bestimmte Bilder ständig unwillkürlich erinnert werden. Knapp formuliert sind dies Alp-Tagträume. Zudem zeigt der Betroffene ein Vermeidungsverhalten. Wothe nennt einen Soldaten, der keine Uniform mehr tragen konnte. Hinzu kommt ein erhöhtes Erregungsniveau, also Schreckhaftigkeit, aggressive Durchbrüche, Schlafstörungen. Hier gilt es, an die traumatisierende Situation in einem geschützten Rahmen noch einmal zu erinnern und zu verarbeiten. Im Trauma, so Wothe, erhalte der Mensch ein Übermaß an Informationen, die er infolge der Anspannung nicht verarbeiten könne. Ist ein Trauma rational und emotional verarbeitet, verliert es die Macht über den Patienten.
Das Attentat in Afghanistan stellte das Bundeswehrkrankenhaus in Hamm vor völlig neue Herausforderungen. Mit den Angehörigen der Getöteten wurde gearbeitet. Sie bekamen die Möglichkeit, für sechs Stunden nach Kabul zu reisen an den Ort des Geschehens. Sie erfuhren, wie ihre Söhne und Ehemänner zuletzt lebten. Für Hinterbliebene sei es wichtig, so Wothe, einen Ort zu haben, an dem sie trauern können. Auf Wunsch ihrer Eltern wurden manche Kinder der beim Attentat verletzten Soldaten von einer Ärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hamm untersucht. Therapeutische Maßnahmen hielt die Ärztin nicht für nötig. Aber ein Mädchen äußerte dann doch ihren Herzenswunsch: „Papa soll nicht wieder weggehen!“