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Archiv-Artikel

„Wir starren nur auf die Defizite“

Lesenlernen muss ein aktiver individueller Vorgang sein – und kein passives Rezipieren, meint die Grundschulpädagogin Renate Valtin. In der deutschen dreigliedrigen Schule ist ein solches konstruktives Lesenlernen noch nicht üblich. Hier herrscht noch die negative Suche nach Begabungen und Fehlern

INTERVIEW CHRISTIAN FÜLLER

taz: Frau Valtin, auch Pisa 2 deprimiert uns. Schon wieder heißt es, 22 Prozent der Schüler scheiterten an einfachsten Texten. Warum können die nicht lesen?

Renate Valtin: Die Schüler dieser so genannten Risikogruppe können schon lesen. Sie sind in der Lage, die Buchstaben und Wörter zu entziffern. Aber, das ist das Problem, sie können nur jene Informationen wiedergeben, die ausdrücklich im Text stehen. Das reicht leider oft nicht, um im Beruf zurechtzukommen. Und es ist auch ungenügend, um bei Pisa gut dazustehen.

Warum nicht?

Pisa hat ein ganz anderes Verständnis von Lesekompetenz, als es hierzulande immer noch vorherrscht. Wenn ein Kind einen Text flüssig und laut vorlesen kann, dann ist nicht nur Oma glücklich. Das Kind kann lesen, heißt es dann. Sogar mancher Lehrer missinterpretiert Vorlesenkönnen als Lesefähigkeit. Ganz egal, ob das rezitierende Kind auch verstanden hat, was es da vorträgt. Bei Pisa hingegen geht es ums Verstehen, um die kritische Auseinandersetzung mit dem Text.

Also um mehr, als Informationen zu erkennen.

Das ist nur der erste Schritt. Die Kinder sollen dem Gelesenen einen Sinn entnehmen können, genauer: Sie sollen daraus eine Bedeutung erzeugen.

Jeder für sich?

Ja, Lernvorgänge, das sagt uns die Entwicklungspsychologie, sind Konstruktionen. Jedes Kind konstruiert sich dabei die Welt – auch beispielsweise die Regeln fürs Rechtschreiben. Lernen ist ein aktiver Vorgang.

Viele meinen jetzt, die Kinder sollten lieber Diktate schreiben.

Ich weiß gar nicht, warum die Leute immer mit dem Diktat kommen! Ein Diktat ist keine Lernmethode, sondern ein Kontrollinstrument. Und ein Relikt aus der Schule des 19. Jahrhunderts. Diktat, das bedeutet passives Rezipieren und kollektive Kontrolle. Für das Herstellen und Regulieren einer Ständegesellschaft mag das ausreichend gewesen sein. Für die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts ist das eindeutig zu wenig.

Warum?

Schule soll heute nicht mehr kontrollieren und selektieren. Sie soll vielmehr möglichst vielen SchülerInnen die besten Entwicklungschancen bieten. Das geht aber nur, wenn Schule und Lehrpersonen fähig sind, das Potenzial jedes einzelnen Kindes und jedes Jugendlichen zu entwickeln. Das bedeutet: Ein Lernvorgang ist aktiv, er ist individuell, er ist eigenständig.

Hört sich gut an. Aber was heißt das für den Unterricht?

Kinder lernen dann am besten, wenn sie eigenaktiv sein und sich selber ausprobieren können – also sollten wir ihnen die Chance dazu geben. Ich empfehle gerne diesen Dreischritt im Unterricht: Die Klasse arbeitet zunächst gemeinsam an einem Lerngegenstand, sei es ein Buchstabe, ein Wort oder ein Text. Darauf folgt eine Phase der Differenzierung mit verschiedenen Materialien und Arbeitsformen, je nach Niveau. Am Schluss sollen die Kinder in Freiarbeit mit ihrem neuen Wissen selbsttätig umgehen.

Pflegen nicht schon viele Lehrer diesen Unterrichtsstil?

Leider zu wenige. Aus Befragungen wissen wir, dass selbst in der Grundschule der Unterricht noch weitgehend frontal abläuft. Die LehrerInnen führen mit der ganzen Klasse einen fragend-entwickelnden Unterricht und sie verwenden zu zwei Dritteln das gleiche Material. Individuelles Lernen ist auf diese Weise gar nicht möglich.

Und daran hängt die ganze Schulmisere?

Es ist ein Problem, dass die deutschen Lehrer – überspitzt gesagt – den Leseunterricht einstellen, wenn Kinder die elementare Lesefähigkeit aufweisen bzw. laut vorlesen können. Die Vermittlung von Lesetechniken findet nur ansatzweise statt. Aber unser Bildungssystem krankt meiner Ansicht nach an allen Ecken und Enden. Das geht los bei der mangelnden vorschulischen Förderung, der schlechten finanziellen Ausstattung des Primarbereichs und endet bei den zahlreichen Auslesemechanismen der deutschen Schule. Generell gesagt: Unsere Schule fördert Kinder nicht, sondern sie sortiert sie nach unten aus.

Sie beginnen die Debatte um die Schulform. Bringt die uns wirklich weiter?

Wir müssen sie führen, weil wir sonst auf mittlere Sicht nicht weiter kommen. Inzwischen ist durch die internationalen Studien doch gut dokumentiert, welche verheerenden Wirkungen das ständige Herabstufen der Kinder hat – zumal, wie Iglu gezeigt hat, viele Kinder trotz guter Leistungen keine Gymnasialempfehlung erreichen. Das Auslesen schwächt das Selbstbewusstsein der Lernenden und es hat einen skandalösen Effekt – das Entstehen „differenzieller Lernmilieus“.

Wo ist der Skandal?

Dass Kinder gleichen IQs, gleicher Lesefähigkeit und gleicher sozialer Herkunft sich auseinander entwickeln, weil sie in verschiedene Schulformen gesteckt werden. Im Durchschnitt bleiben Jugendliche in der Hauptschule um eineinhalb Lernjahre hinter den Gymnasiasten zurück. Das ist nicht hinnehmbar. Jedes Kind hat das Recht und den Anspruch auf das gleiche Lernmilieu.

Sie haben Recht – aber Sie wissen auch, dass ein Umschalten auf „Schule für alle“ von heute auf morgen nicht gelingen kann. Muss man nicht zunächst kurzfristig etwas für die armen Sekundarschüler tun, die in drei Jahren die nächste Pisastudie zu bewältigen haben?

So viel kann man da nicht tun, denn die Dreigliedrigkeit des Schulwesens verhindert meiner Meinung nach die Förderbemühungen. Salopp: Wer rausschmeißen kann, braucht sich um das Fördern keine Gedanken zu machen. Interessant ist doch: In der Grundschule haben wir viel geschafft – aber nach der Auslese in die so genannten weiterführenden Schulen vergrößert sich die Schere zwischen guten und schlechten SchülerInnen dramatisch. Lagen die Viertklässler noch oberhalb des internationalen Mittelwerts, liegen sie bei Pisa weit darunter.

Was kann man tun?

Kleine Reparaturen bringen nichts, es geht um einen Systemwechsel.

Die Abschaffung der dreigliedrigen Schule.

Ja, aber das ist ja kein Selbstzweck. Es ist nur ein Mittel auf dem Weg zu einer Schule, die alle unterstützt und nicht vorzeitig Kinder aus bildungsfernen Milieus abschiebt. Außerdem ist ein Mentalitätswechsel notwendig – bei den Eltern und den Lehrern. Nur so können wir von einer Lernkultur der Kontrolle und des Aussortierens hin zu einer Kultur des Förderns kommen.

Warum hängt die Mentalität mit dem Schulsystem zusammen?

Weil die dreigliedrige Schule auf der Theorie der Dreifaltigkeit der Begabung beruht. Wenn ein Kind nicht mitkommt, dann fühlen sich nicht etwa die Lehrer oder die Schule verantwortlich, sondern das Kind gilt dann als nicht begabt. Das Kind kann’s nicht – also wird es in eine Schulform für andere Begabungen abgeschoben. Etwa in die Hauptschule, die sich um praktisch begabte Schüler kümmern soll. Diese Mentalität hat die ganze Gesellschaft erfasst: Alle starren nur auf die Defizite und Fehler der Schüler. Unsere Kinder werden regelrecht pathologisiert.

Pisa macht die Kinder krank?

Nicht Pisa, unsere Vorstellung tut das. Die Alltagsversion der Pathologisierung ist die mangelnde und bildungsresistente Begabung. Die medizinische Variante ist die so genannte Teilleistungsstörung. Das Kind leidet, so die Diagnose, an Rechenschwäche oder an Legasthenie, an Hyperaktivität, an ADS und AHD. Wenn ich die Apothekerblättchen ernst nehmen würde, gäbe es 60 Prozent kranker Kinder.

Was kann man dagegen tun?

Wir könnten zur Abwechslung mal nicht nach Fehlern suchen, sondern Kindern mit Zutrauen und Bildungsoptimismus begegnen. In Finnland zum Beispiel ist man überzeugt: Jeder kann lesen, schreiben, rechnen und eine dritte Sprache lernen. Iglu und Pisa geben ihnen Recht.