: Der Rooibos-Rassismus
Die Zeiten sind unübersichtlich geworden: Fremdenfeindlichkeit, im linksliberalen Milieu bisher undenkbar, ist heute der Angst vor dem Islamismus gewichen – und längst salonfähig geworden
VON ROBIN ALEXANDER
Die Zeiten sind unübersichtlich geworden. Am Wochenende tranken wir Rooibostee bei einem leitenden Angestellten eines alternativen Unternehmens in Berlin-Kreuzberg und meine Freundin bedankte sich für einen ausgeliehenen Kinderwagen. Und da sagte der Gast- und Leihgeber: „Aber lasst ihn nicht im Hausflur stehen, sonst, äh, verschwindet der in der Parallelgesellschaft.“ Er meinte – und das ist ihm und mir und dem Leser natürlich längst klar: Passt auf, dass euch die Türken nicht den Kinderwagen klauen.
Tja, was sagt man dazu? Dazu sagt man erst mal gar nichts. Denn natürlich kann man jetzt nicht aufspringen und herumschreien: „Unmöglich! Ausländerfeind! Rassist!“ Denn erstens ist unser Gastgeber kein Rassist. Und zweitens hätte man so in diesen Tagen schnell überhaupt keine Freunde mehr in Kreuzberg. Der Diskurs – nein: das Gerede – von Parallelgesellschaften, Zwangsverheiraterei und islamischem Antisemitismus dominiert seit dem Mord in Holland und der anschließenden Spiegel-Titelgeschichte („Allahs rechtlose Töchter“) unsere Kitas, Kneipen und Kiezinitiativen. Die linksliberal-alternative Szene hadert mit den Muslimen in Deutschland.
Tja, was sagt man dazu? Schwierig. Denn das ist nicht mehr die schlechte, alte Türkenfeindlichkeit, mit der man umzugehen gelernt hat: Wer früher Witze über Gastarbeiter machte, tat das entweder weil er Angst vor ökonomischer Verdrängung hatte oder weil er tatsächlich ein Rassist war. Sagte früher jemand: „Die Türken nehmen uns die Arbeitsplätze weg“, dann fragte man ihn, ob er denn tatsächlich bei der Müllabfuhr oder unter Tage arbeiten wolle. Sagte er aber: „Die Kümmeltürken nehmen uns die Arbeitsplätze weg“, stand man auf und ging. Sagte jemand schließlich: „Die Scheißkanaken nehmen uns die Arbeitsplätze weg“, stand man auf, schlug ihn oder wenigstens die Tür beim Rausgehen heftig zu.
Aber was sagt und tut man heute, wenn man von Grünenwählern und Teetrinkern hört: „Guck doch mal in Neukölln: Da gehen Frauen auf der Straße drei Schritte hinter ihrem Mann?“ Antwortet man dann damit, dass auch russische (orthodox), polnische (katholisch) und deutsche (nix mehr) Bewohner von Problembezirken zu traditionellen Familienbildern neigen? Und dass Statistiken über häusliche Gewalt zeigen, dass Frauen öfter von Männern geschlagen werden, die saufen, als von Männern, die beten?
Nein, das sagt man nicht. Denn man will nicht Leute verteidigen, die es nicht verdient haben: Wer den Teufel Alkohol verschmäht, ist selbst schuld. Wer seine Tochter nicht zur Klassenfahrt lässt, ist ein Sack. Wer in dreißig Jahren kein Deutsch lernt, ein Idiot.
Das alles ist bedauerlich: Aber nicht für uns, sondern für die Töchter und Söhne der Ignoranten. Ihre Emanzipation erkämpfen sich viele von ihnen heute schon – unsere Leitartikel und Gesetze helfen ihnen dabei übrigens nicht.
Das ist aber immer und überall auf der Welt so, wenn ganze Gruppen aus ökonomischen und sozialen Zusammenhängen ausgeschlossen werden – ein anderer kultureller Hintergrund kann so eine Situation verschärfen, aber niemals auslösen. Die angeblichen Parallelgesellschaften haben mehr mit Arbeitslosigkeit als mit Bin Laden, mehr mit Hartz IV als mit Hasspredigern, mehr mit dem deutschen Schulsystem als mit dem Koran zu tun.
„Liebe Ausländer, lasst uns mit diesen Deutschen nicht allein“, hieß es noch vor zehn Jahren bei den Leuten, die heute Angst vor dem Islam haben. Wie passt die lange kultivierte Illusion von der multikulturellen Gesellschaft als Erlösung vom Deutschtum zur aktuellen Islamphobie? Der Weg ist kürzer, als es auf den ersten Blick scheint: War vor zehn Jahren der DDR-sozialisierte Skinhead der gefährliche Andere, so ist jetzt der Islamofaschist ausgemacht. Der Judenhasser, Frauenunterdrücker und Fanatiker wird diesmal nicht in die Zone, sondern in der Parallelgesellschaft vermutet.
Eines bleibt: Trotz Auschwitz, Adorno und Abu Ghraib wird die Bestie nicht mehr in uns gesucht. So wenig Skepsis gegen die eigene Gesellschaft wie in der aktuellen Islamdebatte gab es in Deutschland schon lange nicht mehr.
Und was mache ich jetzt mit dem Kinderwagen des besorgten Freundes? Organisiere ich die deutschen Nachbarn zu einer Bürgerwehr, um unser an die Parallelgesellschaft grenzendes Treppenhaus zu bewachen? Verziere ich den Kinderwagen mit nackten Frauen, die ja bekanntlich Muslime in die Flucht schlagen? Vielleicht schließe ich ihn einfach mit einer Fahrradkette ans Treppengeländer.