piwik no script img

Archiv-Artikel

Hildesheimer Grenzerfahrungen

THEATERFESTIVAL Beim Hildesheimer Theaterfestival „transeuropa“ werden Gruppen aus Belgien, Deutschland, Serbien und der Türkei erkunden, was Grenzen für sie bedeuten – und entgrenzt die ganze Stadt bespielen

Beim Hildesheimer Festival geht es nicht nur um territoriale, sondern auch um persönliche Grenzen

VON TIM MEYER

Es ist nur ein Spiel, aber trotzdem steigt der Puls. Eine Nummer in der Hand und gleich geht es zum Einbürgerungstest. Die Tür öffnet sich, „Nehmen Sie sich ein Glas Wasser und eine Brezel“ und dann sitzt man vor einem Prüfer. „Welcher Landkreis liegt in Niedersachsen?“, fragt er. „Nordfriesland, Ammerland, Rhein-Sieg-Kreis oder Vogtlandkreis?“ Antwort: Nordfriesland. „Richtig, Sie sind eingebürgert und können sich noch eine Brezel nehmen.“

Nordfriesland ist natürlich falsch, aber Prüfer Jan Gehler lässt seine Bewerber absichtlich im Ungewissen. Das Programm des 6. europäischen Theater- und Performancefestivals transeuropa, das vom 14. bis 20. Mai in Hildesheim stattfindet, wird vorgestellt und die Macher konfrontieren die Besucher gleich mal mit einer kleinen Grenzerfahrung.

„Grenzwert – What‘s your border worth?“ lautet das Festivalthema. Zu Gast sind in diesem Jahr Belgien, Serbien und die Türkei. Seit zwei Jahren sind die beiden künstlerischen Leiterinnen mit der Planung beschäftigt, bereisten die Gastländer und knüpften Kontakte. Maike Piechot und Lea Seibert wollen mit ihrem Programm zeigen, was ihre Generation, die Generation der um 1980 geborenen, beschäftigt. Dabei gehe es bei der Grenzerkundung nicht nur um territoriale, sondern auch um die persönlichen Grenzen, die Identität. „Man muss sich über Grenzen hinwegsetzen, um seine Identität zu finden“, sagt Lea Seibert.

Zum Beispiel mit Theaterexperimenten von jungen Künstlern. Wie etwa die Arbeit der drei Belgier Bas Devos, Jeroen Vander und Michiel Soete, die in einem leeren Haus im Hildesheimer Sachsenring auftreten werden. Das Stück trägt den Titel „Known Some Call Is Air Am“.

Die Belgier ließen sich für ihr Projekt von dem Buch „House Of Leaves“ des amerikanischen Schriftstellers Mark Z. Danielewski inspirieren. Michiel Soete erzählt, die Ausgangssituation sei ein Erdbeben, wenn das Publikum durchs Haus geführt werde. Dann verschwänden Räume oder es tauche eine Tür in der Decke auf. Die Grenze, die bei ihnen überwunden wird, sei das Haus, das ja sonst als privat und Ort der Sicherheit gilt, meint Michiel Soete. Interessant wird sein, wie sie es schaffen, die geplante Verbindung von filmtechnischen Mitteln und der Theatersituation umzusetzen.

„Wir wollen das Chaos aufräumen“, sagt das Duo „Less Mess“ über ihren Ansatz. Die aus Israel stammende Efrat Stempler und der Berliner Martin Stiefermann setzen sich in ihrem Projekt „Wir erklären die Welt“ mit der Geschichte von Mauern und Grenzanlagen auseinander. In einer interaktiven Performance wollen sie ihr Publikum spüren lassen, wie sich eine Grenze anfühlt. „Wir Europäer kennen das ja nicht mehr“, sagt Martin Stiefermann. Drei Performer werden die beiden Künstler dafür einsetzen.

Auch deutsche Gruppen sind nach Hildesheim eingeladen. Bei „stills from a song“ der Gruppe „Quartett Plus 1 und Vladimir Miller“ soll mit einem Streichquartett ein Live-Musikvideo entstehen. Und Wolfram Sander präsentiert mit „SirenSongs“ ebenfalls ein in dem Moment entstehendes Kunstwerk, wenn er seine Stimme mit der Loop-Maschine bearbeitet. Insgesamt zeigt das transeuropa-Festival neben den drei Koproduktionen acht Gastspiele.

Lea Seibert und Maike Piechot wollen mit transeuropa Grenzen einreißen. Vor allem die Grenzen zwischen Kunst und Bürgern. Damit das Festival nicht eine Insel für ein Nischenpublikum bleibt, bringen sie das Theater unters Volk. Nicht nur sind die Spielorte in der Stadt verteilt und werden die Künstler von Schulklassen durch Hildesheim geführt, sondern mit drei Bürgersitzungen dringt transeuropa bis in den Sitzungssaal des Hildesheimer Rathauses vor und lässt dort über europäische Identität diskutieren. „Theater ist eigentlich immer auch Politik“, sagt Lea Seibert.

transeuropa 2009, Hildesheim, 14. bis 20. Mai