Giftgas an Gefangenen getestet?

Simon-Wiesenthal-Zentrum erhebt schwere Vorwürfe gegen Nordkorea

SEOUL taz ■ Nordkorea soll seit den 70er-Jahren chemische Kampfstoffe an politischen Gefangenen testen. Ein nach Südkorea geflüchteter 31-jähriger Chemiker, der bis 2002 an solch tödlichen Experimenten beteiligt war, wurde diese Woche von einem Vertreter des jüdischen Simon-Wiesenthal-Zentrums befragt. Seinen Aussagen zufolge wurden Gefangene in einen Glaskasten gesperrt, in den die Wissenschafter Giftgase pumpten. Einige Gefangene seien zweieinhalb Stunden später gestorben. Um das Experiment akribisch zu erfassen, hatten die Wissenschaftler den Todeskampf auch über Lautsprecher mitverfolgt.

Im Februar dieses Jahres hatte eine TV-Dokumentation der britischen BBC ähnliche Vorwürfe erhoben. Einer der Zeugen, auf den sich der Film stützte, war später in China verhaftet und nach Nordkorea deportiert worden. Dort widerrief er frühere Aussagen und bezichtigte die Filmemacher, gefälschten Schriftstücken aufgesessen zu sein.

Rabbi Abraham Cooper vom Simon Wiesenthal Center in Los Angeles räumte in Seoul ein, dass sich manche Aussagen nur schwer verifizieren lassen. Doch die sehr detaillierten Darstellungen des geflüchteten Chemikers stärkten dessen Glaubwürdigkeit. Mit der wachsenden Zahl nordkoreanischer Flüchtlinge gelangten immer mehr Hinweise auf schwerstwiegende Menschenrechtsverletzungen an die Außenwelt. „Diese Vorwürfe“, so Cooper, „verlangen nach einer peniblen Untersuchung.“

Südkoreas Regierung habe die Zeugenbefragung „nicht erleichtert“, monierte Cooper. Der Vizevorsitzende der jüdischen Nichtregierungsorganisation beschuldigte Seoul indirekt, von Giftgasversuchen an Gefangenen zu wissen. Aus Rücksicht auf das empfindliche Regime in Pjöngjang mache die Regierung in Seoul das aber nicht zum Thema. Bemerkenswert sei, dass Südkoreas Regierung ihm gegenüber nicht versucht habe, die Aussagen der Überlaufer in Zweifel zu ziehen: „Die Beamten vom Außenministerium hatten jede Gelegenheit, die Schilderungen als unglaubwürdig zurückzuweisen. Sie taten es nicht.“

Regierungssprecher in Seoul verwiesen darauf, die tödlichen Versuche gegenüber Cooper weder bestätigt noch dementiert zu haben. Südkoreas Präsident Roh Moo Hyun pflegt wie sein Vorgänger Kim Dae Jung eine auf Entspannung ausgerichtete Politik mit dem Norden. Heikle Themen wie Menschenrechte werden gern ausgeklammert. „Aus Angst vor einer politischen Konfrontation mit Nordkorea“, vermutet Cooper. In dieser Hinsicht sei die Analogie mit Hitler-Deutschland zulässig. Europa habe damals zu lange ein gutes Verhältnis mit Hitler gesucht.

Diejenigen, die jetzt zuerst die Atomkrise mit Nordkorea beenden und danach über Menschenrechte sprechen wollen, fordert das Wiesenthal Center auf, das Thema Menschenrechte in „alle relevanten Diskussionen einzuschließen“ – somit auch in die festgefahrenen Sechs-Parteien-Gespräche über Nordkoreas Atomwaffenprogramm. „Dies nicht zu tun ist ein strategischer Fehler. Die tödlichen Versuche mit biologischen und chemischen Kampfstoffen berühren nicht nur die Moral, es geht hier um die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen.“ Nordkorea bezeichnete die jüngsten Berichte als „Schmierenkampagne“ der USA. Das Wiesenthal Center will die Berichte dem US-Kongress übergeben. MARCO KAUFFMANN