: Keine Angst vorm Abgrund
Sie ist facettenreich, wandlungsfähig, nachdenklich und träumt von der Musik: Die 27-jährige Wiebke Puls, engagiert am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, bekommt morgen den Boy-Gobert-Preis für Nachwuchstalente. Ein Porträt
aus Hamburg PETRA SCHELLEN
Wenn sie ihre Heimat beschreibt, denkt man sofort an Emil Nolde. „Nordfriesland hat mich unglaublich geprägt – weil das in die Tiefe geht, weil sie fast archaisch sind, die Elemente, Formen und Farben.“ Wiebke Puls, engagiert am Hamburger Schauspielhaus, möchte am liebsten alles auf einmal erzählen. Malte sie, wie sie spricht, geschähe es mit expressiven Pinselstrichen. Zu den wandlungsfähigsten Schauspielerinnen zählt die 27-Jährige, die fischig als Ellida in Ibsens Frau vom Meer, hysterisch als Hedda Gabler, masturbierend als einsamer Kellner in Dea Lohers Berliner Geschichte über die Bühne wandelt. Derzeit ist sie als Olga in Tschechows Drei Schwestern zu sehen.
Seit 2000 agiert sie mit ungeheurem Facettenreichtum am Hamburger Schauspielhaus – nicht überraschend also, dass sie am morgigen Sonntag den renommierten Boy-Gobert-Preis der Körber-Stiftung für Nachwuchsschauspieler bekommt. Doch Ehrungen sind, obwohl erfreulich, letztlich Beiwerk; Wiebke Puls’ Lieblingstext ist Hamlets Monolog über Schein und Sein. Wahrhaftigkeit ist ihr wichtig, die Frage, „ob es wahr ist, was ich tue oder ob ich nur vorführe, was wäre, wenn“, sagt die 27-Jährige. „Und der Konjunktiv kommt für mich nicht in Frage.“ Für sie kommt in Frage, was jeweils angemessen ist, weswegen sie sich nicht festlegen mag auf einen bestimmten Stil.
Vor ihrer Hamburg-Ära spielte Wiebke Puls am Schauspiel Hannover, arbeitete viel mit Andreas Kriegenburg, jetzt Oberspielleiter am Thalia Theater; damaliger Hannoveraner Intendant: der jetzige Thalia-Leiter Ulrich Khuon. Eine Handvoll Verluste also, die sie sich mit der Vertragsunterzeichnung am Schauspielhaus einhandelte, wohin sie mit ihrem Mann, dem Intendanten Tom Stromberg, ging. Ihrer Weiterentwicklung hat diese Entscheidung keinen Abbruch getan. Atemlos arbeitet sie, moniert die immer kürzeren Probenzeiten, „die merkwürdig konform gehen mit der nachlassenden Konzentrationsfähigkeit des jungen Publikums“.
Doch trotz des quasi-Hauptrollen-Privilegs spielt Wiebke Puls ihre Figuren nicht aalglatt ab und leugnet keineswegs die Notwendigkeit persönlicher Berührungspunkte: „Parallelen in der Lebenserfahrung helfen mir einfach, mich in eine Figur hineinzuversetzen.“ Und wenn sie auch privat immer stärker spürt, „dass Coolness und Schweigen nicht immer Tiefgang bedeuten“, hat ihr beruflich doch der Stil Andreas Kriegenburgs, mit dem sie die Berliner Geschichte erarbeitete, am meisten imponiert. „Kriegenburg ist absolut authentisch, aber auch sehr karg. Er probt wenig, und manchmal hat es mich – etwa, als ich den Wichser in der ,Berliner Geschichte‘ spielte – wahnsinnig gemacht, dass er die Schauspieler so allein lässt.“ Andererseits half ihr die erzwungene Einsamkeit, sich der Figur zu nähern. „Kriegenburg hat mich in Situationen gebracht, in denen ich hässlich bin, ohne meine Würde zu verlieren. Er akzeptiert einfach, dass jeder solche Fratzen in sich trägt.“
Manchmal allerdings verführt eine Rolle zum Experiment, bei dem man sich verschätzen kann: „Nach der Ellida wollte ich – im Rahmen von Sandra Strunz’ Ibsen-Reihe – die Hedda Gabler spielen, um eine weitere Facetten weiblichen Verhaltens durchzuexerzieren. Außerdem dachte ich, die Hedda passe genau auf meine Situation. Es war eine Zeit, in der ich sehr elend war und mich am liebsten ausgelöscht hätte. Ich hatte wirklich Angst, dass ich mir auf der Bühne die Kugel geben würde.“
Doch Hedda Gabler brachte großteils Verrisse wegen gekünstelten Spiels, und genau so beurteilt es Wiebke Puls: „Ich merkte plötzlich, dass ich nicht so intensiv spielen konnte wie gedacht. Ich konnte mein Inneres nicht nach außen kehren. Und habe stattdessen lauter künstliches Zeugs gemacht.“
Aber es funktioniert auch umgekehrt: „Bei der ,Berliner Geschichte‘ lag für mich die Parallele nicht so auf der Hand. Und trotzdem habe ich bei dieser Rolle dunkle Seiten meiner selbst kennengelernt.“
Ein bisschen erkenntnisfördernd und therapeutisch sei Schauspiel immer, sagt sie – und doch könnte Wiebke Puls, die aus Husum stammt und Performance studieren wollte, bevor sie an die Berliner Hochschule der Künste ging, „gut ohne Schauspielerei leben. Natürlich, ich kann das gut und mache es gern – aber meine eigentliche Leidenschaft ist der Gesang. Das ist mein Lebenselixier, meine Glückseligkeit.“
Warum sie dies nicht zum Beruf gemacht hat? „Ich hatte Angst, das Hobby zum Beruf zu machen. Ich fürchtete mich davor, für etwas beurteilt zu werden, das ich zum Leben brauche. Da konnte ich keine Überschneidung riskieren.“ Aber inzwischen würde es ihr vielleicht nichts mehr ausmachen, sie weiß es nicht genau. „Manchmal denke ich, dass es das Schönste wäre umzusatteln. Ich bin in letzter Zeit viel risikofreudiger geworden. Und wenn auch die Schauspielerei inzwischen Teil meines Lebens ist und ich gern künstlerisch tätig bin, empfinde ich doch eine tiefe Sehnsucht danach, dafür irgendwann nicht mehr ausschließlich mein Gesicht einzusetzen.“ Wiebke Puls ist nicht verträumt, sondern entschieden, wenn sie das sagt, und wirkt so pragmatisch, als könnten Träume real werden, quasi en passant.
Die Balance zwischen Lärm und Stille zu halten, ist auch so ein Traum: „Ich schätze den sozialen Verband des Theaters sehr. Und ich brauche die Anregungen der Großstadt. Aber manchmal wünsche ich mir eine Rückzugsmöglichkeit auf dem Land – da, wo man aus der Natur neue Kraft schöpfen kann.“ So wie in ihrer Kindheit in einem riesigen Pastorat, wo sie auch ihre Religiosität mitbekommen hat. „Ich habe keinen Grund, an der Existenz Gottes zu zweifeln“, sagt sie. Allerdings – echtes Elend kennt sie nur theoretisch, und manchmal zweifelt sie an der Existenzberechtigung des Luxus-Ortes Theater. „Andererseits habe ich schon das Gefühl, dass ich den Menschen etwas geben kann, und dass ich an diesen Ort gestellt bin.“
Wenn auch vielleicht nicht für immer. Denn nach der diesjährigen Wormser Nibelungen-Produktion mit Dieter Wedel – sie spielte die Brunhild – hat sie ihren Hamburger Mikrokosmos mit anderen Augen betrachtet. „Es war gut, mal rauszukommen aus dem Leistungsdruck, der auf dem Schauspielhaus liegt, und der mich ein bisschen freudlos macht. Die Auszeit hat mir geholfen, einen Instinkt für das zu bekommen, was gut für mich ist. Und ich fürchte mich nicht mehr vor dem Schritt in den Abgrund, weil ich das Gefühl habe, getragen zu werden.“ Klingt nach starkem Gottvertrauen. Und nach leisem Abschied.