Schafft das Abschaffen ab!

Am Sonntag vergibt die Tate Britain den Turner-Preis. Wie immer gibt es eine Menge Aufregung um die Kandidaten

Im zwanzigsten Jahr seiner Verleihung streiten die Briten noch immer gerne über den mit 20.000 Pfund dotierten Turner-Preis für zeitgenössische Kunst. Es schaut sogar so aus als, ob sie zuletzt noch begeisterter über die Kandidaten und die Preisträger gestritten hätten als zu Beginn. Wirklich neu ist nun, dass offenbar auch die Deutschen mitstreiten wollen, das heißt, sie verlangen: „Schafft den Turner Prize ab!“ Die (sicher eher wenigen) Briten, die dies in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung lasen, müssen sich köstlich amüsiert haben. Besser als mit dieser teutonisch selbstbewussten Forderung konnte das gängige Deutschenklischee im Vereinigten Königreich wohl kaum bestätigt werden. Oder war es womöglich ein Befehl?

Besonders die von der britischen Presse hochgelobte Installation „Insult to Injury“ der 1962 und 1966 geborenen Brüder Dinos und Jake Chapman fand wenig Gnade in den Augen der Frankfurter AllgemeinenSonntagszeitung. Was dem Guardian „unglaublich provokant und schockierend“ erschien, reichte ihr nur für leichten Ekel. Dafür freilich, dekredierte das Blatt, brauche es nicht der Kunst, da reiche „ein Besuch in der Kantine der Tate Britain“. Soll niemand sagen, in Deutschland pflege man seine Ressentiments weniger als anderswo. Und soll niemand auf die Idee kommen, man interessiere sich für die geliebte und gehätschelte Folklore der anderen Seite, die im Falle der britischen Gesellschaft ihre hingebungsvolle Leidenschaft für den Skandal ist. Was nun Skandal meint, das allerdings entscheidet sie eben selbst.

Nein, man kann den bronzenen Baum der Chapmans, an dem die naturgetreue Nachbildung der verwesenden und zerfetzen Leichenteile einer Frau hängen, fade finden, keine Frage. Zumal zwei Sexpuppen davor und dahinter der von den Chapmans übermalte Zyklus von Goyas „Desastres de la guerra“ die Situation wahrscheinlich nicht besser machen. Natürlich fällt auf, dass die junge britische Kunst noch immer mit einem Begriff des Schocks operiert, als lebte sie am Anfang des avantgardistischen 20. Jahrhunderts. Ein Kunstbegriff freilich, der selbst nicht gleichfalls mit dem großen Ganzen hantiert und damit näher an der alten Avantgarde und dem Ausnahmezustand Kunst bleibt, als ihm lieb sein kann, der ist auch mit dem Kunstbegriff einer Öffentlichkeit vereinbar, die die Darstellung von Sex and Crime noch immer kühn heißt und es als Volkssport ansieht, in den Wettbüros auf den möglichen Sieger des Turner-Preises zu setzen.

Wofür steht welche Kunst wann für wen? Diese Frage kann heute kein Sakrileg mehr sein, wo das Gute Wahre Schöne als Ganzes nirgendwo mehr zu haben ist. Eines freilich muss die Kunst noch immer leisten: Begehrlichkeit wecken. Neben der traditionellen nach Erleuchtung und Läuterung, nach neuem Denken, anderem Sehen oder nach Politisierung ist auch die nach dem altem Ritual des Skandals legitim, die nach dem Spektakel, nach der Show oder nach Madonna als Laudatorin des Turner-Preises wie vor zwei Jahren. Der Preis schadet der Kunst nicht, wie die FAS weiß. Er schadet ihr bei einem Teil des Publikums. Das aber ist so wenig repräsentativ wie der Teil, bei dem er der Kunst nutzt.

BRIGITTE WERNEBURG