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Archiv-Artikel

„Einen ganzheitlichen Blick auf sich selbst“

Alt gewordenen Migranten ist es wichtig, bei der Pflege als Person wahrgenommen zu werden, sagt Ulrika Zabel von der Caritas. Vorurteile und Wissenslücken gibt es auf beiden Seiten – beim Personal wie bei den Pflegebedürftigen

taz: Frau Zabel, warum brauchen alte Migranten eine andere Pflege als alte Deutsche?

Ulrika Zabel: Sie brauchen kein anderes pflegerisches Know-how. Aber Migranten haben eher einen ganzheitlichen Blick auch auf sich selbst. Während deutsche Pflegebedürftige wissen: Heute wird der Verband gewechselt, haben Migranten den Wunsch, als ganze Person wahrgenommen zu werden. Sie wollen erzählen, wie es ihnen geht. Natürlich haben auch deutsche Pflegebedürftige diesen Wunsch.

Aber genau das scheint ja auch zu Unterschieden im Umgang zu führen?

Natürlich gibt es bestimmte Unterschiede. Zum Beispiel wollen Muslime lieber unter fließendem Wasser gewaschen werden. Deshalb befremdet es sie, wenn man sie etwa aus einem gefüllten Waschbecken heraus reinigt. Oder viele Migranten wünschen sich, dass man etwa beim Betreten der Wohnungen die Schuhe auszieht. Aber ich denke, wichtiger sind die Vorurteile, die beide Seiten im Umgang miteinander im Kopf haben.

Pflegepersonal und Betreute fremdeln?

Ja. Und zwar beide Seiten. Die meisten Migranten haben nicht damit gerechnet, hier alt zu werden. Sie konnten sich das überhaupt nicht vorstellen. Genau deshalb hatte das deutsche Pflegepersonal diese Gruppe auch nicht im Blick. Sie haben sich nicht zuständig gefühlt. Umgekehrt begreifen die älteren Migranten das Altenhilfesystem nicht als ein für sie zuständiges. Jetzt wissen die Pflegekräfte nicht, wie sie mit den ihnen fremden Patienten umgehen sollen. Da treffen zwei verunsicherte Gruppen aufeinander.

Wie reagieren Sie, wenn Sie die Unterschiede bemerken?

Es kommt erst einmal zu einem großen Nachdenken. Aber das ist auch gut so. Für die Altenhilfe ist es ein Glücksfall, dass die Migranten hier reindrängen. Denn dadurch werden Mängel und Defizite angesprochen, die nicht spezifisch nur für Migranten gelten. Ich nenne hier nur den Faktor Zeit.

Gibt es einen anderen Umgang mit Krankheit und Tod?

Ja, sicher. Es gibt den ganzheitlicheren Blick, wie es auch in Großbritannien der Fall ist. Wenn man krank ist, ist man nicht nur teilweise krank, sondern der ganze Körper ist krank. Ein Migrant sagt nicht: Mein Bauchnabel tut mir weh. Ein Migrant sagt, mir tut alles weh – von oben bis unten. Deutsche Pflegefälle konkretisieren das eher, weil sie wissen, der Arzt hat nicht unbegrenzte Zeit für mich. Das hat aber auch mit Sozialisation zu tun.

Auch mit einer anderen Akzeptanz von Altern?

Das ist individuell ganz unterschiedlich. Altern hat ja immer auch mit Bilanzieren zu tun – und das fällt vielen schwer, denn es fällt oft negativ aus. Nicht bei allen, aber bei vielen. Denn ihre Lebensplanung sollte anders verlaufen, sie hatten sich zum Ziel gesetzt, hier Geld zu verdienen, um in der Heimat eine bessere Lebensexistenz aufzubauen, und dort wollten sie auch alt werden. Auch der Umgang mit Ärzten ist oft schwierig. Es kommt zu Fehldiagnosen oder Doppelmedikamentation.

Liegt das auch an einem Sprachproblem?

Nein, sowohl als auch. Das Sprachproblem ist nicht immer die Ursache für Missverständnisse. Wenn sich Migranten fragen: Verstehen mich die Deutschen überhaupt?, meinen sie nicht die Sprache. Sondern ob die sich in ihre Situation hineinversetzen können. Und das hat auf jeden Fall mit mangelnder Integration zu tun.

INTERVIEW: SUSANNE AMANN