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Archiv-Artikel

Der Töpfer ist der Gewinner

Der Turner Prize 2004 ging an Grayson Perry, der traditionelle Keramikvasen herstellt. Allerdings mit Darstellungen, die seit den heroischen Tagen der Antike eher selten auf Vasen zu bestaunen waren

VON MARION LÖHNDORF

Überraschend wurde der mit 20.000 Pfund dotierte Turner Prize an Grayson Perry verliehen: ein Triumph des Handwerks – der Mann ist Töpfer – über die gewöhnlich favorisierte Konzeptkunst. Perry, der sich nach Jahren aus dem Niemandsland zwischen Kunst- und Kunsthandwerk in den Mittelpunkt der Kunstszene bewegt hat, lässt mit seinem Überraschungsgewinn die anderen Turner-Kandidaten, Anya Gallacio, Willie Doherty und die favorisierten Jake und Chapman hinter sich: Insgesamt war die diesjährige Turner-Schau so qualitätvoll wie seit Jahren nicht mehr.

Perrys Arbeiten wird in fast jedem ersten Satz, der über ihn geschrieben wird, Provokationswert attestiert. Damit bewegt er sich im Fahrwasser vorjähriger Turner-Gewinner, deren größte Stärke genau diese Qualtität zu sein schien. Perry bringt Fotos von sich selbst in Frauenkleidern und vor allem Vasen mit in die Turner-Schau. Seine Vasen, von weitem kunstgewerblich hübsch anzusehende Objekte, zeigen bei näherer Betrachtung ihrer fein gezeichneten Bildmotive Unbequemes: die Themen Krieg, Geschlechteridentität und Sexualität.

Doch anders als die pessimistischen Chapman-Brüder zieht Grayson Perry aus, um mit seiner Kunst die Welt zu verbessern. Das zumindest behauptet er. Vor allem wolle er seine finsteren Kindheitserinnerungen in sein Werk einbringen, sagte er vor kurzem in einem Interview mit dem Guardian. Auf seinen dekorativen Vasen stellt er Kindesmissbrauch und Kindermord („We’ve Found the Body of Your Child“) dar, er kommentiert in „Boring Cool People“ gut angezogene Langeweiler und illustriert mit „Kinky Sex“ und „Moonlit Wankers“ genau das, was die Titel besagen. Seine Vasen wurden noch vor einigen Jahren weder in der Kunstwelt noch in der des Kunsthandwerks akzeptiert. Perrys Status änderte sich schlagartig, als Großsammler Charles Saatchi seine Arbeiten kaufte. Neben seiner Töpferei, die Perry 1985 in einem Abendkurs begann, verwirklicht sich der mit einer Psychiaterin verheiratete Vater einer Tochter noch auf einer anderen Ebene: Er schlüpft in die Kleider seines weiblichen Alter Ego Claire und dokumentiert die Ergebnisse seiner Wandlung fotografisch. In Publikumsbefragungen zum Turner Prize rangierte Perry, der ein bewusst antiintellektuelles Medien-Image für sich erschuf, auf Platz eins. Kritiker aber bemängelten seinen stilistischen Konservatismus, den Mangel an künsterlischen Wagemut und die Tatsache, dass sein Transvestiten-Image und seine Vasen in nicht wirklich überzeugender Verbindung zueinander stünden.

Die Brüder Jake und Dinos Chapman sind ebenso medienbewusst wie Perry, aber in ihrer Kunst wie im Leben weniger freundlich. „Wir verdienen unser Brot damit, die englische Mittelklasse zu beleidigen“, behaupten sie, gestehen aber typischerweise im selben Atemzug ein, dass sie Mitglieder genau dieser Zielgruppe sind: Bewusst hergestellte intellektuelle und künstlerische No-win-Situationen gehören bei den Chapmans zum Handwerk. Die Turner-Schau haben sie mit in einer in Bronze gegossenen Plastik von Sexpuppen beim Oralverkehr bestückt, mit einer Skulptur verrottender Leichname und mit den von ihnen modifizierten Goya-Drucken „Desasters of War“.

Die Chapmans tun idealistisch-humanistische Interpretationen ihrer Werke als langweilig und unzulässig ab – „bad humanist sentimental value“. Im Fall Goyas hätten sie vor allem seine zementfeste Position in der Kunstgeschichte als Wegbereiter der Moderne befragen wollen. Auch sich selbst ziehen sie, in oft widersprüchlichen Kommentaren zu den eigenen Werken, immer wieder den theoretischen Boden unter den Füßen weg – so lange, bis nichts mehr sicher ist. Zu ihrer Strategie der Irreführung passt die Wahl von Gegenständen und Bildtiteln, die zu einer ausgesprochen „sentimentalen“ oder „melodramatischen“ Lesart ihrer Objekte einladen.

Im Vergleich zu Perry und den Chapmans ist Willie Dohertys Werk „Re-Run“ von klassischer Strenge und Einfachheit. Auf zwei diagonal zueinander positionierten Leinwänden ist die Videoaufnahme eines rennenden Mannes in Anzug und Krawatte projiziert. In einer Endlosschleife läuft er auf einer Leinwand auf den Betrachter zu, auf der anderen vom Betrachter weg. Gedreht wurde die Szene auf der Craigavon Bridge, die in Willie Dohertys nordirischer Heimatstadt Derry – dem Schauplatz der schlimmsten Ausschreitungen im Nordirland-Konflikt – die katholischen und die protestantischen Gemeinden verbindet. Beide Seiten am Ende der Brücke sind im Film zu sehen: Das Nie-Ankommen des Mannes lässt eine Interpretation der Brücke als Symbol der Verbindung bestenfalls als Utopie erscheinen. Der vor neun Jahren schon einmal für den Turner Prize nominierte Künstler hat sich lange mit politischen Themen auseinander gesetzt und interessiert sich inzwischen für eine „allgemeine filmische anstelle einer spezifisch irischen Erfahrung“. Dohertys Fotoserie „Extracts From A File“, die 2000 in Berlin entstand, deutete bereits in diese Richtung: In 40 Schwarzweißfotografien versuchte er die Großstadt per se in Szene zu setzen. Die menschenleeren Bilder des Iren vermeiden das Spezifische der Stadt: Berlin ist überall.

Die Schottin Anya Gallacio geht einen ganz anderen Weg. Sie arbeitet mit nichthaltbaren Materialien, deren Reaktionen außerhalb ihrer Kontrolle als Künstlerin liegen – Blumen, Baumstümpfen, Äpfeln, Schokolade. Geruchssensationen und Verfallsprozesse sind Teile ihrer Arbeit, in deren Mittelpunkt sie, wie sie sagt, den Betrachter stellt: seine Wahrnehmung und emotionale Reaktion sind von größter Bedeutung für sie. Für die Turner-Schau hat sie ihr Werk „preserve ‚beauty‘ “ (1991–2003) ausgesucht: 800 Gerberas verwelken während der Dauer der Ausstellung zwischen zwei Glaswänden. In „because I could not stop“ (2002) verwendet sie den Bronzeguss eines Baums, an dem sie Äpfel befestigt hat. Ihr Thema ist, wie sie sagt, nicht der Verfall, sondern was es bedeutet zu leben: Nichts ist sicher, nur die Veränderung ist unausweichlich.

Bis 18. Januar, Tate Britain