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Archiv-Artikel

Pfeifen im Wald

Erdig-düster: In seinem Tanzstück „Kitz“ inszeniert Choreograph Urs Dietrich im Bremer Schauspielhaus existentielle Ausweglosigkeit

Ein kleines Reh ist ein Kitz. Ein Kitz ist ein Versprechen auf einen röhrenden Brunftschrei. Das hat mit Zeit zu tun. Und mit Biologie. Zu Beginn der neuen Arbeit des Bremer Hauschoreographen Urs Dietrich steht ein titelgebendes „Kitz“ hinten auf der Bühne, das irgendwie aus Zeit und Weltlauf gefallen zu sein scheint – es ist viel zu groß. Liebliche Waldesklänge umtosen das arme Ding unwirklich laut. Bald reißt ein Tänzer im Vorbeilaufen den Kopf weg. Der erste Lacher des Abends. Ein Lacher, der um vieles röchelnder und schmerzhafter daherkommt als die relative Leichtigkeit der letzten Produktionen des Bremer Tanztheaters erwarten ließ.

Wir stehen also erstmal im Wald. Das heißt: wir sitzen davor. Der Boden ist grau bis schwarz. Tot belaubt. Das Licht durchgehend runtergedimmt. Große schwarze Rechtecke an den Seiten verengen den Raum nach hinten auf eine bis auf einen schmalen Streifen undurchlässige dunkle Wand zu. Auf ein Waldbodensolo folgt in Parallelaktion ein Hin- und Hergerenne, das das Kitz bald den Kopf kostet. Die rasanten Bewegungen greifen den Raum und geben zugleich eine diffus-düstere Grundstimmung vor. Was fehlt, in diesen romantischen Nachtgedanken, ist der Sternenhimmel. Nach oben ist die Bühne von glänzend poliertem Weiß begrenzt. Wodurch ein schöner Effekt entsteht: An der Bühnendecke bricht sich die ungewohnte Vogel-Perspektive aufs Geschehen.

Die TänzerInnen sind uniform in fleischig-beige Leibwäsche, robuste Kleidchen und graue Joppen gewandet. Im Dämmerlicht der ersten Hälfte verwischt das jede schnellere Bewegung zur Unschärfe. Die Rennenden vom Beginn kommen bald links im Verborgenen zum Stehen, um sich noch einmal, in einer unendlich langsamen Bewegung, über die Bühne zu begeben. Dass Dietrich auf Hebe-, Stütz- und Sprungfiguren verzichtet, unterstreicht die horizontale, gleichsam erdige Anlage von “Kitz“.

Im übernächsten Bild steht eine Tänzerin allein, mutterseelenallein. Und pfeift. Im Wald. Die Figuren verströmen eine existenzielle Ängstlichkeit, die kaum je durchbrochen wird. Der Pfeiferin gesellen sich nach und nach alle anderen zu, bis sie in Trapezform auf der Bühne stehen. Doch man merkt – und das ist eine schwer zu tanzende Passage, die das Ensemble mit Bravour meistert –, dass die Vielen doch nur der Einen Schatten sind. Sie folgen ihr auf Schritt und Tritt.

Schließlich ist auch das Versprechen auf Entspannung nur scheinbar. Die TänzerInnen entledigen sich ihrer Mäntel und mit diesen die Bühne des Laubs. Die weißgrellen Rückseiten der Wände und die unangenehm auf die Pelle rückende Decke bilden einen klaustrophoben Raum, der die Einsamkeit in Trieb und Natur durch eine Art Techno-Ausgeliefertsein ergänzt.

Dietrich inszeniert totale Ausweglosigkeit, die viele Elemente seiner bekannten Formsprache wiederholt, manche davon gegen den Strich bürstet. Mit Blick auf Dietrichs Oeuvre muss man sagen, dass seine oft klare Strenge sich hier zu sehr dem technisch und ästhetisch Möglichen unterordnen muss. Tim Schomacker

nächste Aufführungen: 1. und 5. Dezember, jeweils 20 Uhr