: Alter Ego
AUS BERLIN KIRSTEN KÜPPERS
Mit der Karriere in Bad Salzuflen sieht es jetzt auch schlecht aus. Hans Schulz hat noch mal angerufen. Aber der Hotelchef hat ihm keine Hoffnungen gemacht. Es sind ältere und meistens kranke Leute, die in Bad Salzuflen Urlaub machen. Sie haben kein Geld, sie wollen ausruhen, und sie brauchen keinen Animateur.
Und Schulz hat es ja selbst gesehen. Vor einer Weile ist er da gewesen. Er ist die Bad Salzuflener Promenade hoch und runter gelaufen, er war im Park und hat sich ein Kurkonzert angehört. An den Rezeptionen der Hotels und Pensionen hat Schulz Faltblätter ausgelegt. „Ältester noch aktiver Animateur der Welt ist in der Stadt. Für Animation und Kommunikation steht er jederzeit bereit“, stand darauf. Die Lokalzeitung hat sogar ein Interview mit ihm gebracht. Die Bemühungen haben nichts genutzt. Es hat sich keiner gemeldet. Nach acht Tagen ist Schulz abgereist. Er ist jetzt wieder in Berlin.
Man kann ihn besuchen. Der älteste noch aktive Animateur der Welt wohnt in einem Einfamilienhaus am nördlichen Stadtrand. Hinter dem Gartenzaun beginnen die Felder. Im Haus gibt es eine dunkle Wohnstube mit einem Tisch, mehreren Stühlen und einem grünen Ledersofa, auf dem sich Stofftiere drängeln. An der Wand hängt ein gerahmtes Foto. Es zeigt ein Bild aus glücklichen Tagen: Hans Schulz Arm in Arm mit dem Schauspieler Heiner Lauterbach. Die Männer sind braun gebrannt und stehen vor einem Swimmingpool. Ein paar Jahre ist das her.
Und das ist dann so ein Souvenir, das übrig bleibt, wenn man berühmt wird und dann fallen gelassen. So wie Hans Schulz. Sechsundachtzig ist er jetzt. Ein Foto bleibt einfach an der Wand hängen, egal was kommt. Egal, ob man zuerst bekannt geworden ist bei den Leuten wegen seines hohen Alters. Und dann plötzlich aus demselben Grund bekommt man keine Arbeit mehr. Auch wenn das ein verrückter Widerspruch ist.
Ein Foto guckt von der Wand. Es hängt und hängt und bleibt da auch hängen, wenn Hans Schulz sich mit seiner Schirmmütze davor stellt und mit aggressiver Freundlichkeit ruft: „Ich bringe den Leuten das entgegen, was sie sich im Urlaub wünschen. Ich kann mit ihnen Backgammon spielen oder Boccia. Ich kann Scrabble-Turniere organisieren, ich kann moderieren oder Heinz Rühmann imitieren. Mir kann man nicht mehr viel beibringen, ich kann jede Menge.“
Hans Schulz trägt Jeans, Schirmmütze, Turnschuhe und ein weißes T-Shirt. Auf dem T-Shirt steht: „Der Hans, der kanns!“ Die Kollegen aus dem Ferien-Club „Aldiana“ haben es ihm zum 80. Geburtstag geschenkt. Und das ist ja auch ein Beweis, dass Hans Schulz Fähigkeiten hat.
Schulz schiebt den Stuhl zurück, er hat eine Thermoskanne mit Kaffee in der Hand, er setzt sich an den Tisch und erzählt. Er war Werkzeugmacher früher. In einer Berliner Rotationsdruckmaschinenfabrik hat er Metall gefräst und gefeilt. Über 30 Jahre lang. Es war Ende der 60er-Jahre, als Schulz anfing, Urlaub zu machen. Alleine. Seine Frau war schon tot. Schulz reiste nach Tunesien, Kenia, Tansania, Uganda, Griechenland. In Afrika ging Schulz auf Safari, er hat große Tiere gesehen: Elefanten, Zebras und Giraffen.
Das Reisen wurde zur Leidenschaft, die Angestellten vom Reisebüro kannten ihn schon. Immer neue Länder schlugen sie ihm vor. Es kam so weit, dass Schulz keine Lust mehr hatte auf Weihnachten mit der Familie, auf ein liebloses Fest in einer kalten Stadt, wo der Enkel die Geschenke aufreißt und der Schwiegersohn sich mit Whisky besäuft und dann anfängt zu pöbeln. Schulz erklärte der Verwandtschaft: „Ich hab die Schnauze voll.“ Er ist abgehauen in den Aldiana-Ferien-Club nach Tunesien.
Es gibt keinen Schnee in Tunesien, aber auf Schnee legt Hans Schulz keinen Wert. Die Mitarbeiter des Aldiana hatten einen Weihnachtsbaum, Kamele und Girlanden organisiert, abends servierten sie ein Galadinner. Schulz war zufrieden, er kam jedes Weihnachten wieder. Manchmal flog er sogar zwei oder dreimal im Jahr nach Tunesien – so gut gefiel es ihm im Club.
Die Angestellten mochten Schulz. Er war ein angenehmer Stammgast. Er hatte gute Laune und machte überall mit. Manchmal holten die Animateure ihn abends zur Show auf die Bühne. Einmal sprach Schulz eine Gruppe Biertrinker an und überredete sie zu einem Minigolf-Turnier. Zu seinem 73. Geburtstag schenkten ihm die Mitarbeiter des Aldiana ein T-Shirt, auf dem stand „Hans Schulz – Ehrenanimateur“. Es dauert noch eine Weile, aber irgendwann fragte ihn die Aldiana-Chef-Animateurin tatsächlich, ob er nicht dableiben wolle als fest angestellter Animateur. Hans Schulz brauchte nicht lange zu überlegen. Er wollte.
Es war eine gute Zeit in Tunesien. Es gibt viele Videokassetten, die das dokumentieren. Hans Schulz springt vom Tisch auf und läuft rüber ins Schlafzimmer, er stellt den Fernseher an und legt ein Band in den Recorder. Die Videos haben damals Feriengäste aufgenommen oder die Aldiana-Mitarbeiter selbst. Deswegen sind das Licht und der Ton nicht besonders klar. Aber man kann sehen, wie Hans Schulz mit ein paar anderen einen Didi-Hallervorden-Sketch nachspielt.
Eine Szene weiter steht er mit einem Mikrofon auf einer Bühne und singt eine Arie aus dem Barbier von Sevilla. Es ist nur Playback. Aber auch das will gelernt sein, meint Schulz. Er sitzt auf dem Bett und guckt auf den Bildschirm. Manchmal bewegt er leise den Mund, er kann die Texte immer noch auswendig.
In einem nächsten Videoausschnitt spielt Schulz mit einer Frau Backgammon. Die Frau ist eine unbekannte Schauspielerin aus einer Krankenhausserie. Danach sind ein paar schwerfällige Deutsche zu sehen, die Pfeile auf eine Dartscheibe werfen. Am Ende händigt Schulz den Urlaubern Urkunden und Cocktails aus. Alle tragen T-Shirts und kurze Hosen. Sie gucken in die Kamera, sie klatschen und rufen: „Aldiana olé!“
Acht Jahre arbeitete Schulz als Animateur. Dann machte der Club in Tunesien dicht. Es waren nicht mehr genug Gäste gekommen. Die meisten Animateure wechselten nach der Schließung in andere Aldiana-Filialen. Hans Schulz wurde nicht übernommen. Es war nicht mehr so gut gelaufen für ihn in den letzten Monaten. Im Club sagten alle Du zu ihm, das täuschte Gleichberechtigung vor. Aber Schulz hatte keine Werbeplakate in der Lobby aufhängen dürfen, als Senioren-Animateur gehörte er nicht zum offiziellen Programm. „Der Chef war auch nicht das, was ein Chef sein sollte“, raunt Schulz. Er winkt ab, will vergessen, er guckt aus dem Fenster.
Seither ist die zweite Karriere von Hans Schulz irgendwie stecken geblieben. Er hat eine Schirmmütze auf, die Turnschuhe sind noch neu. Hans Schulz ist jeden Moment auf dem Sprung – aber es geht nicht weiter. An einer Fernschule für Touristik hat Schulz eine Ausbildung nachgeholt. Jetzt darf er sich offiziell „Animationsassistent“, „Senior Aktiv Manager“ und „Sportmanager“ nennen. Schulz verfügt über „Egodrive“, das haben ihm die Ausbilder bescheinigt. Ohne Egodrive könne man es als Profi-Animateur vergessen, meint Schulz. Er hat sich auch ins Guinnessbuch der Rekorde eintragen lassen, als ältester aktiver Animateur der Welt. Es hilft nichts.
Zwei Jahre geht das schon so. Selbst beim Robinson Club in Mecklenburg und in einem Hotel im Vogtland hat Schulz es probiert. Aber immer, wenn er sich irgendwo bewirbt, sagen die Chefs, er sei zu alt für einen Job. „Dabei wäre ich sofort auf jedem Kreuzfahrtschiff einsetzbar!“, findet Schulz.
Er sitzt wieder im dunklen Zimmer, die Hände liegen schwer auf dem Tisch, aus der Thermoskanne kommt leise ein ziehendes Geräusch. Schulz ist nicht zufrieden mit der Lage. „Überhaupt nicht“, brummt er und zupft an seinem Hörgerät. „Vor allem fehlt mir die Bühne.“ Es ist eine paradoxe Situation und es ist nicht fair. Erst überhäuft man die Menschen mit neumodischen Begriffen wie „Aktiv Manager“ und „Egodrive“, man zieht Rentnern moderne Schuhe über und Sportklamotten. Man gibt ihnen Mikrofone in die Hand und lässt sie in Videos auftreten. Kein Wunder, dass die Leute jetzt denken, sie seien so gut wie berühmt. Aber wenn es wirklich ernst wird, will keiner sie haben.
Jetzt hängt Schulz in Berlin fest und hat zu wenig zu tun, es gibt nur einen Fernseher und eine Verwandtschaft, mit der er sich nicht besonders versteht. Vielleicht hat er sich deswegen ein bisschen zum Esoterischen hingewendet. Schulz guckt nach vorne. Auf dem Sofa warten die Stofftiere. Sein Blick unter der Schirmmütze ist fest. Er isst jetzt fast nur noch Müsli, Knäckebrot und Salat, sagt er. Er geht zum „Walking“, jeden Tag läuft er 6.000 Meter. Sein Weg führt durch die Felder hinter dem Haus. Dort umarmt er Bäume und spricht mit Pflanzen.
Schulz hat viel nachgedacht in den letzten beiden Jahren. Er hat noch mal die Briefe gelesen, die ihm Clubgäste geschickt haben. „Du hast unser Leben bereichert“ und „Schön, Dich kennen gelernt zu haben!“, steht in den Briefen. Man kann sagen, dass sich seine Fähigkeiten für Schulz seither zur Berufung ausgewachsen haben. „Ich habe meine Mission erkannt“, erklärt er laut. „Ich muss einfach mit Menschen kommunizieren!“
Schulz wird deswegen noch einmal nach Bad Salzuflen fahren. Er will ein paar Leute ansprechen. Bis dahin wartet er in seinem Zimmer. Es ist still im Haus. Schulz sagt: „Sie können immer vorbeikommen. Sie können mit mir über alles reden. Wir können auch eine kleine Animation machen! Jederzeit.“