: Hilfe gegen Einsamkeit und Depression
Im „Lebenshaus“ in Köln-Longerich lernen Aidskranke neu, ihren Alltag zu meistern. Früher war das Haus ein Hospiz. Das jedoch wird nicht mehr so dringend benötigt, seit Menschen mit der Immunschwächekrankheit länger überleben können
Von Sandra Pingel
Irgendwann möchte Ralf* wieder in einer eigenen Wohnung leben. Ein eigenständiges Leben war für ihn in den letzten Jahren unmöglich geworden. Neben Depressionen haben ihn Angst- und Panikattacken geplagt. Ralf ist zurückhaltend, fast schüchtern. Seine Hände zittern, als er anfängt zu sprechen. Die Fragen seines Gegenüber nimmt er mit aufmerksamen Blicken wahr.
Ralf ist aidskrank. 1985 hat er erfahren, dass er HIV-positiv ist. Wann genau die Krankheit bei ihm ausgebrochen ist, kann er nicht sagen. Relativ sicher ist jedoch, dass das Virus bei ihm die so genannte Bluthirnschranke überwunden hat. Jedenfalls hat Ralf Demenz. Er wird vergesslich. Bei manchen Aidskranken wirkt sich das dahingehend aus, dass sie wieder auf das geistige Niveau eines Kindes zurückfallen. Ein Krankheitsmerkmal, das kaum bekannt ist.
Insgesamt sechs Langzeitaidskranke betreut das „Lebenshaus“ in Köln-Longerich. Das einstöckige Haus wird von der Aids-Hilfe Köln betrieben und wurde erst im Januar von einem Hospiz in ein Wohnprojekt mit ambulanter Betreuung umgewandelt. Da Aidskranke heute deutlich länger mit der Immunschwächekrankheit überleben können als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren, ist der Bedarf nach einem eigenen Hospiz gesunken. Gleichzeitig stieg die Zahl der Erkrankten, die ihr Leben alleine nicht mehr meistern können.
Ralf hat sich in den ersten Jahren nicht groß um die Diagnose HIV geschert. Erst als 1991 sein Lebenspartner qualvoll an Aids starb, hat er sich um eine eigene Medikation gekümmert. Im selben Jahr ging der heute 47-jährige Bestatter in Rente. Fünf Jahre später verlor er einen weiteren Freund an Aids. Ähnliche Schmerzen erleiden zu müssen, wie seine Lebensgefährten, ist heute seine größte Angst. Manchmal überfällt es ihn einfach, letztes Jahr war er deshalb mehrere Monate in der Psychiatrie. „Zwei Psychologen haben mir unabhängig voneinander geraten, in eine betreute Einrichtung zu ziehen“, erzählt er heute. Im „Lebenshaus“ hat er sofort einen Platz bekommen und zog deshalb im Mai diesen Jahres von Essen nach Köln.
Lebensgeschichten, wie die von Ralf sind keine Seltenheit mehr. Die vier Männer und eine Frau, die mit ihm im Lebenshaus wohnen, sind ebenfalls schon lange an Aids erkrankt. Sie alle sollen hier wieder lernen, ihr tägliches Leben zu regeln. Sie werden bei der Haushaltsführung unterstützt oder bei Behördengängen begleitet. „Die Klienten müssen grundlegende Fähigkeiten wiedererlernen“, erzählt Sozialarbeiter Jörg Rheingans, einer von vier festangestellten Mitarbeitern des Lebenshaus. Rheingans nennt die Bewohner „Klienten“, die Bezeichnung „Patient“ fällt bei ihm nicht. „Einsamkeit und Depressionen sind die größten Probleme, mit denen Aidskranke zu kämpfen haben“, sagt er. Viele Aidskranke würden den Kontakt zu Freunden und Familie abbrechen, erzählt er, und nur noch allein zuhause sitzen und vereinsamen.
Freundschaften sind bei Ralf schon vor Jahren zusammengebrochen. Aber nicht wegen seiner Erkrankung. „Mein letzter Partner blieb lieber zuhause.“ Der Kontakt zur Familie ist aber geblieben – im Gegensatz zu manchem Mitbewohner. „Meine Eltern waren vor ein paar Wochen hier. Aber nach zwei, drei Tagen war ich auch froh, als sie wieder wegfuhren“, erzählt er und lacht. Anderweitige Kontakte pflegt der Technikbegeisterte heute lediglich über das Internet. Dort hat er schon eine eigene Seite über Aids und Angst gebastelt. Dabei hilft ihm ein ehemaliger Praktikant, der inzwischen sein bester Freund geworden ist. „Der kann HTML“, sagt Ralf. Und er fährt jeden Tag zum Mittagessen ins „Hivissimo“, dem Restaurant in der Aids-Hilfe Köln. Als er noch allein lebte, habe er die Wohnung fast nie verlassen, erzählt er.
„Wir stellen bei allen Klienten fest, dass sie sich stabilisieren“, erzählt Betreuer Rheingans. Dazu gehöre auch, sich mit dem eigenen Tod auseinander zu setzen. „Gestern habe ich mit einem Klienten seine Beerdigung organisiert“, erzählt er. „Damit kann er dieses Thema erstmal abschließen und sicher sein, dass er nicht anonym bestattet wird.“
Ralf sagt, er habe, bedingt durch seinen früheren Beruf, eine andere Einstellung zum Tod als der Durchschnittsbürger. Die Panikattacken kommen dennoch immer wieder. Dann hat er noch nicht einmal mehr Lust, im Internet zu surfen und will morgens am Liebsten gar nicht erst aufstehen. „In letzter Zeit haben Sie das wieder etwas schleifen lassen“, sagt Jörg Rheingans und klopft seinem Schützling auf die Schulter. „Aber demnächst wird das wieder besser, nicht war?“
Schließlich wirkt Ralf richtig entspannt. „Hier habe ich gelernt, dass man immer noch leben kann“, sagt er. Sein Händedruck ist nicht mehr ganz so zaghaft wie am Anfang, das Zittern ist verschwunden.
* Name geändert