Der Kampf fürs Oui

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Was heute Abend zwischen 18 und 22 Uhr in den Sektionen der französischen Sozialisten geschieht, ist eine interne Positionsfindung. In einer Partei, die gerade einmal 120.000 Mitglieder zählt. Im europäischen Vergleich ist das eine Marginalie. Doch die Spitze der PS hat das Ereignis zu einem kontinentalen Politikum hochstilisiert. „Das Schicksal Europas“, so François Hollande in Paris, „könnte von den französischen Sozialisten abhängen.“ Der Parteichef hofft auf ein „Oui“ zu dem europäischen Verfassungsvertrag. Aber seiner GenossInnen sicher ist er nicht. Trotz der Meinungsumfragen.

Im Frühsommer hatten Hollande und die Seinen Staatspräsident Chirac lautstark dazu aufgefordert, ein Referendum über die EU-Verfassung zu organisieren. Die Weichenstellung für die Zukunft, so ihr Argument, sei zu wichtig, um über die Köpfe der FranzösInnen hinweg zu entscheiden. Ein Referendum sei ein demokratisches Muss.

Zu jenem Zeitpunkt spürten die SozialdemokratInnen, die 2002 mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Lionel Jospin eine historische Niederlage eingesteckt hatten, wieder Aufwind. Bei zwei Urnengängen in der ersten Jahreshälfte stellten sie die rechte Sammlungsbewegung UMP in den Schatten. Mit der Forderung nach einem Referendum, so das Kalkül, ließe sich Jacques Chirac an die Wand drängen. Manche SozialdemokratInnen vermuteten, der Staatspräsident würde es nicht wagen, ein Referendum zu organisieren.

Das Kalkül ging nicht auf. Am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, erklärte Chirac: „Es wird auf jeden Fall ein Referendum geben.“ Seither hat er sich nicht mehr öffentlich zu dem Thema geäußert. Er überließ es der PS und deren eigenen Widersprüchen.

Als Regierungspartei und als Partei des verflossenen Staatspräsidenten François Mitterrand hatte die PS alle institutionellen EU-europäischen Entwicklungen der letzten Jahre mitgetragen. Von den Maastrichter Verträgen, die bei einem von Mitterrand durchgeführten Referendum nur eine hauchdünne Mehrheit von 0,5 Prozent erhielten, bis hin zum Stabilitätspakt, den die rot-rosa-grüne Regierung von Lionel Jospin 1997 gleich nach ihrem Amtsantritt unterschrieb – obschon sie im Wahlkampf zuvor kritisch dazu Stellung genommen hatte. Zahlreiche französische SozialistInnen aus der Führungsriege haben auch zentrale Positionen in der EU innegehabt. Von Jacques Delors, dem EU-Kommissionspräsidenten, bis hin zu Pierre Moscovici, dem früheren Europaminister, der im Verfassungskonvent mitgewirkt hat. Doch sobald sie in der Opposition ist, beurteilt die PS die wirtschaftsliberale Entwicklung der EU kritisch. Dabei zeigt sich, dass sie nie eine grundsätzliche EU-Debatte geführt hat.

Bei den Europawahlen machten die KandidatInnen der PS mit einem Programm Werbung, das mit dem Verfassungsvertrag auf lange Zeit unrealisierbar wäre. Sie versprachen, sich für garantierte Mindestlöhne in allen EU-Ländern einzusetzen, sie verlangten eine Harmonisierung der Steuern sowie große öffentliche Aufträge in der EU und eine Verfassung, die durch eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung im Rat änderbar wäre. Diese Großzügigkeit im Europawahlkampf rächte sich, kaum hatte Staatspräsident Chirac das Referendum angekündigt. Nacheinander traten anschließend die BaronInnen der PS auf und erklärten, sie hielten den Vertrag zwar für verbesserbar, würden ihm jedoch zustimmen. Sie reden von einem „linken Ja“. Beziehungsweise einem „bedingten Ja“. Gleichzeitig machen die linken Parteifraktionen, sowie die Basis ihrem Unmut Luft.

Und dann scherte auch noch der Ex-Premierminister und Vize-Parteichef Laurent Fabius aus der Führungsriege aus. „Ich bin proeuropäisch“, erklärt er. Sein „non“ zu der Verfassung begründet er vor allem damit, dass diese künftige soziale Harmonisierungen in der EU erschwere, beziehungsweise ganz unmöglich mache.

Jetzt ist die PS die einzige sozialdemokratische Partei in der EU, die offen über den Verfassungsvertrag debattiert. Die einzige auch, durch die ein tiefer Riss in dieser Frage geht.

Die heutige Abstimmung sollte einen Ausweg aus dem Dilemma weisen. Doch sie könnte es noch vergrößern. Dafür haben die massiven Kampagnen der beiden gegnerischen Lager in den vergangenen Wochen gesorgt. Je stärker das Lager der „Non“-BefürworterInnen zu werden schien, desto aggressiver traten die BefürworterInnen auf. Parteichef Hollande tourte durch sämtliche europäischen Hauptstädte. Lud zahlreiche sozialdemokratische Größen – aus Dänemark, aus Spanien und aus Deutschland – zu seinen Meetings ein. Und drohte seinen ParteigenossInnen, „ihr Nein würde die PS europaweit ins Abseits bringen und national auf lange Zeit unglaubwürdig machen.“ Sein Gegenspieler Fabius verzichtete auf Auslandsreisen und konterte, ein „Non“ könne für die dringend notwendige Debatte in der EU sorgen. Nur in einem Punkt sind sich beide Seiten einig: Vom Ausgang der heutigen PS-Abstimmung hängt auch das Ergebnis im nationalen Referendum in Frankreich im nächsten Jahr ab.