: Roter Wedding – rot wie Blut
POLIZEIGEWALT Am 1. Mai vor 80 Jahren ging die Polizei brutal gegen demonstrierende Arbeiter vor. 32 Menschen starben. Eine Ausstellung und Führungen erinnern daran
■ Eröffnung der Ausstellung „Der Weddinger Blutmai 1929“ am 2. Mai, 14 Uhr, im „Linkstreff“, Malplaquetstraße 12
■ Führungen durch die Geschichte des „Roten“ Wedding: 1. Mai, 14 Uhr, Treffpunkt vor Schering, U-Bhf. Reinickendorfer Straße www.stattreisenberlin.de 2. Mai, 14.30 Uhr, DenkMalTour, Treffpunkt Linkstreff, Malplaquetstraße 12
■ Individuelle Stadtführung: www.taxi-wall-fahrten.de
VON JOEL VOGEL
Es ist Mittag, als der Bauklempner Max Gemeinhardt, SPD-Mitglied, am 1. Mai 1929 von einer Gewerkschaftsversammlung in seine Wohnung im 3. Stock der Kösliner Straße 19 zurückkehrt. Als er Lärm von draußen hört und ans Fenster tritt, richten zwei Schupos ihre Waffen auf ihn und schießen ihm eine Kugel in den Kopf. Gemeinhardt ist im Wedding der erste Tote des sogenannten Blutmai. Neun weitere werden an diesem Tag dasselbe Schicksal erleiden.
Heute stehen in dem damaligen „Unruhegebiet“ Kösliner Straße kantige Wohnblöcke, die den dumpfen Charme der 50er Jahre verbreiten. Parzellierte Gärtchen, Zäune, viel Beton. Am Durchgang ein sauberes Schild: „Spielen in der Anlage verboten“.
Nicht einmal eine Gedenktafel erinnert an jene blutigen Tage und daran, dass die Kösliner Straße in der Weimarer Republik über die Grenzen Berlins hinaus bekannt war: berühmt als das Herz des Roten Weddings. 2.500 Menschen lebten in den 24 Häusern der „Roten Gasse“. Ein Armutsquartier – und eine KPD-Hochburg.
Im Ausnahmezustand
An jenen Maitagen 1929 rief die Polizei in Teilen der Stadt den Ausnahmezustand aus und riegelte Straßenzüge in Neukölln und Wedding ab, die sie zu „Unruhegebieten“ erklärt hatte. Ein Foto aus den ersten Maitagen 1929 zeigt einen Polizisten mit einem Karabiner neben einem Schild „Halt! Es wird geschossen!“. Und das wurde es auch. Die Bilanz der Tage: 10.981 Schuss, 32 Tote, mehrere hundert verletzte Zivilisten, 1.228 Verhaftungen.
Der sozialdemokratische Polizeipräsident Karl Friedrich Zörgiebel hatte für den 1. Mai 1929 ein Demonstrationsverbot verhängt. Die KPD rief trotzdem zu Kundgebungen auf. „Straße frei!“ war die Parole, den Tag der Arbeit wollte man sich nicht nehmen lassen. Schon gar nicht von den Sozialdemokraten. Also zogen am Morgen des 1. Mai Gruppen von Kommunisten in Richtung der Kundgebungsorte Alexanderplatz und Potsdamer Platz. Doch weit kamen sie nicht. Die Stadt war übervoll mit Polizei: 16.500 wurden bereits in den Morgenstunden in Alarmbereitschaft versetzt und schwer bewaffnet. Sie hatten den Auftrag, Ansammlungen schon im ersten Ansatz zu ersticken – und knüppelten sich fortan durch die Straßen.
Doch nicht nur das: Bereits in den ersten Stunden des Einsatzes eröffneten sie das Feuer. In den Polizeikasernen kursierte seit Wochen die Furcht vor dem kommunistischen Aufstand. Die Sicherheitskräfte hatten daran geglaubt, hatten den Straßenkampf geübt, und also fand er auch statt.
Schon in den Wochen vor dem Blutmai tobte in der Öffentlichkeit eine Hetze, die den Ausgang des Tags der Arbeit vorwegnahm. „Die KPD will Tote!“ und „KPD braucht Leichen!“ lauteten die Schlagzeilen der sozialdemokratischen Zeitung Vorwärts. Der Machtkampf der beiden Arbeiterparteien wurde erbittert geführt.
Schuld soll die SPD sein
Wenige Tage nach den Ereignissen des Blutmai machte Carl von Ossietzky, damals Herausgeber der Weltbühne, einer radikaldemokratisch-bürgerlichen Wochenzeitung, die sozialdemokratische Führung für die Gewalttätigkeiten verantwortlich: „Schuldig ist der Herr Polizeipräsident, der in eine friedliche Stadt die Apparatur des Bürgerkriegs getragen hat.“ Kein bürgerlicher Politiker hätte das fertiggebracht, so seine bittere Anklage.
Eine offizielle Untersuchung der Polizeigewalt hat indes nie stattgefunden. Ein selbsternannter Untersuchungsausschuss unter dem Vorsitz Carl von Ossietzkys befragte in den Monaten danach mehr als 300 Zeugen und trug damit entscheidend dazu bei, die Ereignisse zu dokumentieren. Die meisten Opfer waren Unbeteiligte: Passanten, die nicht schnell genug wegkamen, Frauen und Alte in ihren Häusern. Kaum ein Zehntel der Verhafteten war politisch organisiert.
Auch mit so manchem Mythos räumen die Berichte des Ausschusses auf. Weder die gefährlichen kommunistischen Dachschützen noch die tapferen Barrikadenkämpfer hat es je gegeben. Keiner der Toten hatte eine Waffe bei sich, die meisten wurden von hinten erschossen.
Ein paar Straßen von der Kösliner Straße entfernt, im „Linkstreff“, dem Ladenlokal der Linkspartei, nennt auch Werner Schulten die Mythen des großen Straßenkampfes Quatsch. „Die Obrigkeit hat ganz normalen Protest mit unfairen Mitteln unterbunden.“ Er will die Geschichte des Bezirks wachhalten – so, wie sie wirklich war. Und an sie anknüpfen. Schulten ist gerade dabei, die Tafeln über eine neue Ausstellung zum Blutmai anzuordnen.
Anknüpfen an Traditionen
Er grinst freundlich verschmitzt. Groß sind seine Worte vom „Roten Wedding“, den er gerne wieder aus dem Kiez machen würde. Doch er meint es wirklich so. Schulten sieht die Aufgabe seiner Partei darin, sich für die Prekären einzusetzen, so wie damals in der Weimarer Republik die KPD. Also gründete er mit anderen aus der Linkspartei die Bundesarbeitsgemeinschaft Hartz IV und wurde deren Vorsitzender. Ein bisschen stolz erzählt er, dass sie hier aus dem Wedding bei der Bundespartei nicht immer beliebt sind.
Vielleicht findet sich in dem schmalen, etwas abgeranzten Ladenlokal in der Malplaquetstraße etwas von der Geschichte des Roten Weddings. Zeitgemäß kämpferisch und unbeugsam. „Die Mythen vom Kampf bis zum letzten Blutstropfen passen zur heutigen Zeit nicht“, sagt Werner Schulten über die Fotos der Ausstellung gebeugt. „Das Symbol des zivilen Widerstands schon.“