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Archiv-Artikel

Panikschübe und schwächliche Brust

Nach dem glücklichen Erreichen des Achtelfinales der Champions League durch ein 1:0 über den RSC Anderlecht hofft Bayern Münchens Kapitän Oliver Kahn auf einen dringend benötigten Zuwachs an Selbstvertrauen und Kraft

MÜNCHEN taz ■ Die Szene hat etwas Feuerzangenbowleskes: Aufgedreht und leicht übermütig marschieren Pizarro, Santa Cruz und Ballack vorbei am Pressepulk, unter den rotblauen Wollmützen derart spitzbübisch hervorgrinsend, als hätten sie gewaltig was ausgefressen und trotz frechster Lausbubenstreiche und dutzendfacher Einträge ins Klassenbuch doch noch die Versetzung in die nächste Klasse geschafft. Schon sehr lange hat man die dauergestressten Bayern-Kicker nicht mehr so entspannt gesehen wie auf dem Weg zum Auslaufen nach dem 1:0 gegen Anderlecht. Wären sie nicht so müde, sie würden sicher noch ein Rad schlagen oder Ringelreihen tanzen.

Auf dem Rückweg in die Kabine laufen sie hinter dem Klassensprecher vorbei. Oliver Kahn steht noch vor den Fernsehkameras und blickt angestrengt, hat keine Geste, keinen Klaps für seine Kameraden übrig. Er bewegt sich noch in einem Paralleluniversum, muss sich fragen lassen, warum er sich nicht freut. „Ich kann noch gar nicht klar denken“, sagt er. Unendlich müde und alt sieht er aus, doch sicher wird es irgendwann an diesem Abend noch die Szene aus der Werbung gegeben haben: Kahn mit Jubelfäusten und Urschrei: Jaaaaaaaaaa!

Es ist kein Zufall, dass sich alles wieder auf Kahn konzentriert. Nicht weil er der Kapitän ist. Oder weil er in der 95. Minute diesen wunderbaren Volleyschuss gehalten hat, „eine Routine-Parade“, wie er sagt. Sondern weil er derjenige ist, der diese Spiele sichtlich bis in die letzte Faser lebt, so wie dies neben dem Feld vielleicht nur Hoeneß und Hitzfeld tun. Ein letztes Mal hatte er um 22.36 Uhr den Ball Richtung Himmel gedonnert, als der Schiedsrichter endlich abpfiff. Wie ein nasser Reissack kippte Kahn nach hinten weg, schnaufte wie ein Marathonläufer Atemwölkchen in die kalte Nacht und vollführte mit Kuffour die wohl zärtlichste Umarmung, seit es Fußballspieler gibt. Einige Minuten zuvor hatte der übereifrige Ghanaer ihn noch in bewährter Manier beim Kopfballversuch angesprungen und umgehauen.

Die klassische Zitterpartie, eine neue Dusel-Dimension, ein „absoluter Arbeitssieg“, bei dem selbst Hitzfeld zugeben muss „einige Tode“ gestorben zu sein: „Am Schluss hatten alle Angst.“ Kahn kratzt sich nach seinem 75. Champions-League-Spiel hinterm Ohr und sagt: „Ich bin ja schon einige Jahre hier, aber ich habe selten erlebt, dass wir so unter Druck standen. Das war ’ne richtige Schlacht.“ Auch Manager Hoeneß beweist die Fähigkeit zur Demut: „Ich muss die Worte, dass Europa Angst vor uns haben muss, zurücknehmen. Das ist nicht der FC Bayern, den wir sehen wollen.“ Der Präsidentenkaiser poltert wie eh und je: „Das war ein Rückfall. Die Brust ist sehr schwach im Moment. In der zweiten Halbzeit hatte das mit Fußball nix mehr zu tun.“ Hitzfeld kontert: „Das kennt der Franz. Der hat auch nicht immer super gespielt.“ Allerdings wird es unter den 52.000 Zuschauern wenige gegeben haben, die schon mal eine derart von Panikschüben geschüttelte Bayern-Defensive erlebt haben. Jean-Marie Pfaff, gefragter Autogrammschreiber und belgischer Ex-Bayern-Keeper, zuckte die Achseln: „In zwei Tagen redet keiner mehr drüber.“

So wird es wohl sein. Spätestens, wenn heute der nächste Gegner ausgelost wird und morgen das Spitzentreffen mit Stuttgart über die Bühne ist, wird die Erinnerung an den erst zweiten Champions-League-Sieg in mehr als 20 Monaten schnell verblassen. Das Elfmeter-Geschenk (Beckenbauer: „Eine großzügige Entscheidung“) wird nur noch den 26-fachen belgischen Meister beschäftigen, dem Ähnliches bereits in Lyon widerfuhr und dem erstmals seit 17 Spielen kein Tor gelang. Auch dass Makaays Treffer der 350. des FCB im Cup der Landesmeister war, wird kaum jemanden interessieren – Makaay selbst am allerwenigsten. Fünf der nur sechs Münchner Champions-League-Tore gehen auf sein Konto, den entscheidenden Elfmeter verwandelte er anstelle Ballacks so selbstverständlich, dass Kahn sagte: „Ich glaube, der weiß gar nicht, was das ist: Nerven.“

Auch der Begriff Druck ist in Makaays Welt eine Unbekannte. Kahn dagegen kennt es nicht anders. „Wir standen permanent unter Kritik, Kritik, Kritik. Das Einzige, was ich im letzten halben Jahr gelesen habe, ist, dass alles nur Scheiße ist bei diesem Verein. Das nagt an den Spielern. Wir sind psychologisch noch nicht so gefestigt. Die Mannschaft hat ein bisschen Angst bekommen.“ Doch Kahn wäre nicht Kahn, ginge der Satz nicht weiter: „Eine Mannschaft, die so viel auf die Fresse gekriegt hat wie wir in dieser Saison und die sich doch überall durchgesetzt hat, entwickelt meistens enorme Kräfte und großes Selbstvertrauen, wenn sie Zeit hat, zur Ruhe zu kommen, weil sie unter enormem Druck etwas geschafft hat.“ Es klingt wie eine Drohung.

THOMAS BECKER

Bayern München: Kahn - Salihamidzic (78. Schweinsteiger), Kuffour, Linke, Lizarazu - Hargreaves, Ballack, Zé Roberto (66. Sagnol) - Santa Cruz, Makaay, Pizarro RSC Anderlecht: Zitka - Tihinen, Kompany, Deschacht - Zewlakow (63. Wilhelmsson), Hasi (78. Iaschtschuk), Hendrikx (86. Kolar) - Zetterberg, Baseggio - Aruna, Mornar Zuschauer: 52.000; Tor: 1:0 Makaay (42./Foulelfmeter)