bücher für randgruppen : Wenn Steine weinen
„Zwischen den Paradiesen der kleinen Erfahrungen und den Paradiesen der großen Versprechungen gibt es keine friedliche Koexistenz“ (Mins Minssen).
Als ich am 18. November einen Blick auf die Website des Verlags werfen wollte, funktionierte sie nicht. Unter dem Ergebnis der Suchmaschine wiesen nur zwei Zeilen darauf hin, dass die Graue Edition – so der Verlagsname – sich nicht „in der Art modischer Anti- oder Alternativ-Literatur, gegen die …“, und nun folgte weiter nichts als mysteriöse Pünktchen.
Was könnte nun modische Anti- oder Alternativ-Literatur sein?
Welche Art von Büchern ist hier überhaupt gemeint?
Was bedeutet es, wenn sich ein Verlag in der Einleitung durch eine Abgrenzung definiert?
Nicht zur Literatur allgemein, sondern zur Anti- oder Alternativ-Literatur, zur modischen.
Etwas ratlos ging ich daran, für die alternative tageszeitung und ihre LeserInnen – egal ob nun modisch, anti- oder altmodisch – die Rezension eines Werkes der Grauen Edition zu verfassen.
Schon befand ich mich in trüber Nachkriegszeit, wo die schönen, dreieckigen Bucheckern zu gelblichem, armseligem Öl gepresst wurden. Eine von der Hand des Wirts ausgepresste Zitrone, vermischt mit Zucker und Wasser, nennt sich in jener Zeit elegant „Zitrone naturel“.
Der Naturwissenschaftler und Chemiker Mins Minssen beobachtet in seinen unter der Überschrift „Hinter der Dornenhecke“ gesammelten Essays mit wachem Blick die Unscheinbarkeiten und Nebensächlichkeiten der Nachkriegszeit, entdeckt vier Jahrzehnte später in Peru „Uschis“ Pumpe, in Island die Elfenbeauftragte und hierzulande die Welt der Dose oder die Gestalt ihres Recyclings beziehungsweise die Bedeutung ihrer Entsorgung im archäologischen Kontext.
In den Grenzbereichen zwischen wissenschaftlichen und ästhetischen Erfahrungen ortet er Geräusche und Erinnerungen an früher, spürt die Hintergedanken unbedeutender Objekte auf oder entlockt dem Wind mittels der Äolsharfe manch eigenwilligen Klang.
Kindheitserinnerung trifft Forschergeist – in wie viele gleich große kleine Teile kann man eine Zeitung zerreißen? „Warum so modern? Warum so revolutionär? Die Welt besteht aus Molekülen!“, sang einst Tabea Blumenschein. Durch den Schall der Bomben zerbersten Fensterscheiben. Was unsichtbar war und transparent, wird nun sichtbar in den Splittern, und auch all das, was uns eigentlich nicht auffallen sollte und wollte – auf dass wir nicht der Melancholie verfallen oder gar dem Kokain. Der natürliche Zustand von Metall, das Erz, ist der Rost, das polierte Flugzeug, die rostfreie Eisenbahn und das Edelstahlgeschirr – eigentlich etwas Künstliches. Derweil fallen einer Kirche in Peru die Ziegel aus den Seitenwänden wie einem Huhn in der Mauser die Federn – schöne Bilder, an die einen dieses Buch denken lässt.
Die Ästhetik des Auflösungsprozesses manifestiert sich in der Patina. Was tun? Nach der grausamen Froschsezierung in einer peruanischen Schulklasse plädiert der Autor dafür, einen Erlass zu erstellen, den reinsten Aberglauben zu lehren. Etwa den, dass die Steine Blut und Wasser schwitzen. Aus Achtung vor der Natur, der belebten und der vermeintlich unbelebten. Das klingt sympathisch. Plötzlich miaut der Kater Murr. Ist es irgendwo anders wirklich schöner als hier?
Ein Kieler U-Boot-Bunker mit dem zauberhaften Namen Kilian hat nach seiner Sprengung durch den Fall der Blöcke eine in den verschiedensten Neigungswinkeln ästhetisch ansprechende Komposition ergeben. Darauf wachsen nun die unterschiedlichsten Pflanzen wie Vogelbeere und Schwarzer Holunder. Da das Ensemble zwar aussieht wie ein Kunstwerk, aber keines ist und niemand der lokalen Stadtplaner auf die Elfen hört, wird es schließlich gesprengt, um einer Papierfirma zu weichen, die acht Jahre später Insolvenz anmeldet.
Mins Minssen hat eine sinnliche, anregende und mit feiner Ironie versehene Lektüre verfasst. Man könnte sie auch als höchst angenehm altmodisch bezeichnen. Ganz ohne Abgrenzungen.
WOLFGANG MÜLLER
Mins Minssen: „Hinter der Dornenhecke“. Die Graue Edition, Zug/Schweiz 2004, 334 Seiten, 24 Euro