: Kulturkampf um Bildungsstandards
In Bad Boll kommen Pädagogen zusammen, um über die Einführung von Bildungsstandards zu sprechen. Dabei zeigt der sächsische Schulminister Karl Mannsfeld (CDU), wozu man die Standards auch benutzen kann – nämlich, um endlich aus den unangenehmen Pisa-Vergleichen herauszukommen
AUS BAD BOLL CHRISTIAN FÜLLER
Was für eine Idylle. Der Schnee hat Bad Boll, ein Nest nahe der Schwäbischen Alb, in fröhliches Weiß gepudert. Die ansässige Evangelische Akademie, einer der renommiertesten Tagungsorte Deutschlands, hat internationale und nationale Bildungsexperten geladen. Schluss soll sein mit dem Streit, wie die verkorkste deutsche Schule nach vorn gebracht werden könnte. Abseits des hektischen Politikalltags will man den großen Bildungskonsens erzielen. Das Morgengebet in Bad Boll beginnt um 7.45 Uhr.
Als der Staatsminister Karl Mannsfeld (CDU) ans Rednerpult tritt, ist die Harmonie mit einem Schlag vorbei. Sachsens Schulminister skizziert ein konservatives Manifest. Das Publikum unterbricht ihn immer wieder durch Raunen und Murren. „Wir hatten gehofft, er wäre ein bisschen liberaler als sein Vorgänger“, sagt ein Teilnehmer, „aber was Herr Mannsfeld hier abgeliefert hat, war geradezu reaktionär.“ Was ist geschehen in Bad Boll?
Die Boller Tagung widmet sich den so genannten Bildungsstandards, dem neuen Wundermittel deutscher Schulpolitiker. Ob links, ob rechts, ob McKinsey oder GEW, alle schwören sie auf die heilenden Kräfte dieser neuartigen Bildungsziele. Anders als bisher sollen Schulen, Lehrer und Schüler nicht mehr an einem unsichtbaren Gängelband namens Lehrplan geführt werden. Nein, sie könnten, so die famose Idee, freier und frecher werden. Das Land beschließt, welche wenigen, klar definierten Kompetenzen (Bildungsstandards) Schüler in einem bestimmten Alter beherrschen sollen – und schon blüht das neue Wunderland.
In diesem Land würden flugs tausende deutscher Lehrpläne außer Kraft gesetzt. Schulen und Lehrer schwimmen plötzlich in einem Meer pädagogischer Freiheiten. Und nun gelingt es ihnen, zu beseitigen, was die Nation der Dichter und Denker so empfindlich aus dem Gleichgewicht gebracht hat: dass Deutschland eine im internationalen Vergleich extrem hohe Zahl an Risikoschülern attestierte. 25 Prozent der deutschen 15-Jährigen, so zeigt Pisa empirisch gut begründet, sind nicht imstande, einfache Texte zu verstehen. Darüber reden? Argumentieren? Fehlanzeige!
Minister Mannsfeld verweigert sich diesem Traum. Er stichelt gegen die Bildungsministerin des Bundes, weil sie mit den Standards eine Einheitsschule und Bildungszentralismus errichten wolle. Er triezt die anwesende GEW-Vorsitzende Eva-Maria Stange, sie habe die Standards vollkommen falsch verstanden. Und allen wird klar: An eine Trendwende im deutschen Lernen ist gar nicht zu denken – jedenfalls nicht mit Hilfe von Bildungsstandards.
Das konservative Programm geht genau in die entgegengesetzte Richtung: Es vermindert nicht etwa die Zahl der deutschen Schulvorschriften, sondern erhöht sie. „Ein radikales Umsteuern bei den Lehrplänen ist gegenwärtig nicht angezeigt“, sagt der ehemalige Professor kühl in das ungläubig brummelnde Auditorium hinein.
Das Boller Publikum giert nach Reformpädagogik im Gewande der Bildungsstandards. Mehr Freiheiten, weniger Prüfungen, mehr echtes Lernen heißt die Erwartung. Mannsfeld aber zeigt, wie man die Standards auch nutzen kann – um die Negativ-Merkmale des Bildungswesens zu verschärfen: Noch mehr Kontrolle – weil Schüler künftig neben Klausuren und Abschlussprüfungen zusätzliche Vergleichsarbeiten schreiben müssen (zur Messung der Standards). Und noch mehr Selektivität, denn die Ergebnisse der Arbeiten werden zwar dazu benutzt, um den Lernenden zu fördern – aber nur im Rahmen der für ihn diagnostizierten Begabung.
Der Minister aus Sachsen lächelt. Er weiß, dass seinen Zuhörern nun langsam dämmert: Da beginnt ein neuer Kulturkampf. Früher schlug man sich um Gesamtschule und Schülerauslese. Heute sind Bildungsstandards und individuelles Fördern das Schlachtfeld.
Für die Lehrer sind die Bildungsstandards gut, um ihre Schüler zu messen, ihren Lernstand zu verorten – und ihnen dann zu helfen, das Lernziel zu erreichen. Mannsfeld überspitzte die individuelle Förderung („Ich kann doch nicht jedem Schüler einen Privatlehrer an die Seite geben“) – und stellte sie damit grundsätzlich in Frage. Wozu individuell fördern, hieß die Botschaft, wir fördern doch unsere Kinder längst in den dafür zuständigen Schulformen – begabungsgerecht. „Wir müssen unterschiedliche Begabungen anerkennen“, meint Mannsfeld.
Die Lehre von Begabungen, die bereits im zarten Kindesalter erkennbar seien, ist ein deutsches Phänomen – und ein altes. Es stammt aus dem vorletzten Jahrhundert. 1874 verstand etwa der Soziologe Albert Schäffle darunter das Ergebnis von Vererbung. Wer versuche, die Lern- und Leistungsfähigkeit eines Schülers zu beeinflussen, der betreibe „pädagogischen Kommunismus“.
Dieses Vertrauen auf angeborene Begabungen hat sich in Deutschland im Grunde erhalten. „Praktisch Begabte“ werden in Hauptschulen ausgesondert – mit zunehmend weniger Chancen auf Teilhabe an Arbeitsmarkt und Gesellschaft. Vermeintlich „höher Begabte“ entsendet man mit zehn Jahren auf Elitetrainingsanstalten namens Gymnasien. Auf den zweifelhaften Erfolg dieser Begabtenauslese stießen die Pisaforscher noch im Jahr 2001: Die deutsche Schülerelite kann es zwar qualitativ mit den Gesamtschülern Finnlands, Kanadas oder Koreas aufnehmen; quantitativ aber bleibt sie meilenweit hinter ihnen zurück. 53 Prozent der jungen Finnen etwa haben gute oder sehr gute Lesekompetenzen, in Deutschland sind es nur 28 Prozent.
Um das System der deutschen Bildungsapartheid fortwährend zu skandalisieren, klammern sich die Boller Tagungsteilnehmer, wie alle Bildungsreformer im Land, an jede neue Pisa-Veröffentlichung. Doch damit könnte bald Schluss sein. Wenn es erst mal innerdeutsche Vergleichsarbeiten auf der Grundlage der neuen Bildungsstandards gebe, so verriet Karl Mannsfeld, könne man auch die Teilnahme an OECD-Studien überdenken. „Dann können wir raus aus dem harten Dreijahresrhythmus von Pisa“, sagte der sächsische Bildungsminister – und löste damit ungläubiges Staunen aus.
„Das ist der völlig falsche Weg“, kommentierte Ludwig Eckinger vom Verband Bildung und Erziehung. „Klingt nach Schneewittchen“, sagte Sigrid Beer von der Landeselternkonferenz in Nordrhein-Westfalen, „die Kultusminister bekommen im Spiegel des internationalen Vergleichs immer nur die schlechten Seiten vorgehalten – also wollen sie nun den Pisa-Spiegel abhängen.“
Mannsfelds Brandenburger Kollege Steffen Reiche (SPD), Vizepräsident der KMK, dementierte zwar den Ausstiegswillen der Kultusminister – aber er machte damit das Gerücht zu einer Gewissheit. „Niemand hat die Absicht, aus Pisa International auszusteigen“, sagte Reiche, „aber den innerdeutschen Pisa-Vergleich wird es bald nicht mehr geben.“ Am Tag danach soll die Morgenandacht in Bad Boll voll gewesen sein.