„Kerneuropa wird wie ein Magnet wirken“, sagt Karl Lamers

Frankreich und Deutschland müssen ihre Macht nutzen: entschieden, aber auch vorsichtig gegenüber kleinen Ländern

taz: Herr Lamers, nach dem gescheiterten EU-Gipfel ist das Wort Kerneuropa in aller Munde. Sie haben dieses Konzept vor zehn Jahren mit entwickelt. Fühlen Sie sich bestätigt?

Karl Lamers: Wenn es sich jetzt nicht allzu rechthaberisch anhört, würde ich sagen: Ja, ich fühle mich bestätigt. Jetzt zeigt sich, dass Kerneuropa kein Ersatz, sondern die Bedingung dafür ist, dass das große Europa mit seinen 25 Mitgliedsstaaten auch ein starkes Europa ist. Leider war Frankreich vor zehn Jahren nicht bereit, sich auf die Kerneuropa-Idee einzulassen.

Und jetzt sind die Franzosen plötzlich klüger geworden?

Frankreich hat lange versucht, seine alte weltpolitische Rolle allein weiterzuspielen, musste jedoch einsehen, dass dies nicht geht. Zunächst hatte man aber keinen Partner für gemeinsame außenpolitische Vorstöße, denn diese Aufgabe konnte das Nachkriegsdeutschland nicht übernehmen. Der Maastrichter Vertrag hat dann bei der europäischen Integration große Fortschritte gebracht. Aber eben nur für den Euro, nicht für die Politik. Paris hat eingesehen, dass es hier weitermachen muss.

Alle reden über Kerneuropa. Aber wer gehört eigentlich dazu?

Alle, die bereit sind, zu weiterer Integration. Die Gründerstaaten der EG sollten dabei sein, aber es spricht auch nichts gegen Polen.

Die Kerneuropadebatte ist doch ein Reflex, dass es in der Eurpäischen Union zu viele Länder mit zu vielen nationalen Interessen und zu wenig europäischem Bewusstsein gibt.

Ja. Durch die ständigen EU-Erweiterungen sind die Vorstellungen von Europa immer weiter auseinander gegangen. Ein früherer rumänischer Außenminister hat einmal gesagt: Wenn wir Osteuropäer von Europa sprechen, denken wir an das, wie Europa einmal war. Die Westeuropäer denken dagegen an die Zukunft. Das Problem ist also die Ungleichzeitigkeit. Hinzu kommen die praktischen Interessenunterschiede. Das hat vor allem die Irakkrise gezeigt. Dabei ging es um die Frage, ob die EU nur eine Institution zur Wohlstandsvermehrung ist – oder ob es zu einer gemeinsamen Politik gegenüber dem Rest der Welt findet.

Bei Ihnen steht die Außenpolitik ganz im Vordergrund. Ist das nicht zu wenig?

Nein. Die gemeinsame Außenpolitik ist das entscheidende Kriterium für das politische Europa. Nicht nur weil die Probleme so groß sind, dass wir sie nicht länger allein lösen können. Sondern weil das Selbstverständnis jeder Gemeinschaft letztendlich abhängig ist von ihrem Verhalten gegenüber der übrigen Welt. Ohne dies hat Europa kein Fundament und keine Identität.

Großbritannien wird also nicht Teil Kerneuropas sein?

Es ist offensichtlich, dass London keine allzu großen Probleme mit der jetzigen EU-Krise hat. Denn London vertrat schon immer eine andere Vorstellung von Europa. Letztendlich ist man der EU ja sogar beigetreten, um ein politisches Europa zu verhindern. Andererseits ist es aber so, dass Kerneuropa eine magnetische Wirkung ausübt. Wenn die Kernländer geschlossen auftreten, wird auch London nicht auf Dauer abseits stehen wollen. Daher ist der Vorwurf, dass Kerneuropa die EU zerstört, Unsinn.

Aber wer nicht dazugehört, hat nichts mehr zu melden …

Nicht nichts – aber weniger. Entscheidend ist, das der Kern offen ist und wie die Mitglieder des Kerns auftreten. Sie dürfen sich nicht so verhalten wie bei der Irakkrise oder dem Bruch des Stabilitätspakts. Natürlich hatten Deutschland und Frankreich beim Irak in der Sache Recht, aber sie haben allein entschieden. Sie haben sich in keinster Weise bemüht, für ihre Position zu werben. Sie haben gegen den antihegemonialen Grundsatz, der Europa zusammenhält, verstoßen.

Also darf das Zentrum von Kerneuropa nicht Berlin und Paris sein – weil das zwangsläufig zur deutsch-französischen Hegemonie führt?

Doch. Die Bildung eines Kerns zwischen Paris und Berlin ist die unerlässliche Voraussetzung für Kerneuropa – auch wenn man dieses Bündnis nicht gleich staatsrechtlich verwirklichen muss und eine deutsch-franzöische Union gründet. Kein anderes Staatenbündnis könnte an ihre Stelle treten. Sie müssen jedoch zusammenarbeiten, ohne dabei die kleinen EU-Staaten zu dominieren.

Aber wie wollen Sie das verhindern? Viele in der Europäischen Union fürchten jetzt, dass Kerneuropa außerhalb der EU-Verträge zusammenarbeitet – und jenseits der demokratischen Kontrolle des Europaparlaments.

Man muss unbedingt versuchen im Rahmen der Verträge bzw. der Verfassung zu bleiben. Und diese bieten ja auch die Möglichkeit zu einer verstärkten Zusammenarbeit weniger Staaten. Es kann jedoch sein, dass die notwendige Zahl von Staaten, die hierfür laut Vertrag notwendig ist, nicht zusammenkommt. Dann muss man außerhalb der Verträge agieren. Das ist aber nicht EU-feindlich. Auch die Grenzzusammenarbeit von Schengen und die Währungsunion fand zunächst außerhalb der Verträge statt. Dann müssen die nationalen Parlamente stärker herangezogen werden.

Kerneuropa, Eurogruppe, EU. Wie sollen die Bürger begreifen, wer für was verantwortlich ist?

Die Unübersichtlichkeit ist eines der großen Probleme Europas. Der Verfassungsentwurf hätte sie verbessert. Entscheidend aber für die Akzeptanz Europas ist der Erfolg. Vor allem in der Außenpolitik. INTERVIEW: SABINE HERRE