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Archiv-Artikel

Schafft die Hauptschule ab!

Berlins Bildungsexperten und -politiker diskutieren den Vorschlag von Bundesbildungsministerin Bulmahn, die Hauptschule abzuschaffen. Berlins Hauptschulleiter sind sich längst einig: Das Modell ist überholt. Neun Rektoren fordern: Weg damit!

Karla Werkentin, Heinz-Brandt-Oberschule, Pankow: „Ich bin seit 35 Jahren im Schuldienst und seit dem ersten Tag dafür, die Hauptschulen abzuschaffen. Das deutsche Schulsystem ist verrottet. Gleiche Bildungschancen gibt es nicht mehr, sie hängen vom Status der Eltern ab. Das hätte niemals passieren dürfen. Schlechte Schüler werden aussortiert, das ist verbrecherisch und menschenverachtend. An meiner Schule sind nicht mal Migranten – auch die „berühmte“ deutsche Familie funktioniert nicht. Wir brauchen auch keine Ganztagsschulen, wenn es Gymnasien gibt. Besser fände ich gemeinsamen Unterricht bis zur zehnten Klasse.“

Klaus Übler, Heinrich-Hertz-Oberschule, Spandau: „An einer Gesamtschule wäre die Mischung der Schülerschaft viel ausgeglichener. Da gäbe es Schüler, die anderen helfen könnten. Aber auch die Gesamtschule kann sicher nicht alle Probleme lösen. Blieben die Schülerzahlen dort so hoch, wie sie es jetzt oft sind, würden die Hauptschüler da unter die Räder kommen. Deshalb sollte es kleine Schulen nach finnischem Vorbild geben, mit kleinen Klassen. Unsere Schüler sind nicht einfach, sie sind wenig motiviert, viele von ihnen wollen sich nicht anstrengen, sich aber auch nichts sagen lassen. Für die Lehrer ist das alles sehr mühsam.“

Helmut Hochschild, Paul-Löbe-Oberschule, Reinickendorf: „Nicht die Hauptschule allein, sondern das gesamte mehrgliedrige System sollte abgeschafft werden. Oft werden Potenziale, die in Hauptschülern stecken, durch das derzeitige Schulsystem verdeckt oder nicht ausreichend gefördert. Persönlichkeit und Motivation müssen gestärkt und der Kontakt mit den Eltern intensiviert werden. Wir erziehen die vierte Generation von Sozialhilfeempfängern. Viele Schüler wissen nicht mehr, was pünktlich aufstehen heißt. Berliner Hauptschulen leisten wichtige pädagogische Arbeit, aber an ihrem schlechten Image ändert das nichts.“

Eva Lumpe, Konrektorin der Hermann-Köhl-Oberschule, Tempelhof: „Solange sie weiter so benachteiligt werden, können Hauptschulen nicht funktionieren. Uns fehlt zusätzliches Personal. Damit könnte man etwa in Teilungsstunden Schüler individuell betreuen. Wir haben einen Schülerclub mit zwei Erziehern, aber beide haben nur eine halbe Stelle, das reicht nicht. Ich finde, Haupt- und Realschule müssten zusammengefasst werden. Man kann nicht die Hauptschulen allein mit allen Problemen belasten. In meiner Klasse haben von 23 Schülern gerade mal 7 eine Lehrstelle gefunden. Zum Glück gibt es Firmen, die nicht nur auf Zeugnisse schauen.“

Olaf Garcke, Johann-Thienemann-Oberschule, Steglitz: „In den Hauptschulen herrscht Bildungsnotstand, weil sich die anderen Schultypen auf unsere Kosten bereinigen. Sie laden die schlechtesten Schüler hier ab. Was ich vor 30 Jahren in einer Unterrichtsstunde vermitteln konnte, dafür bräuchte ich heute eine Woche. Die Gesamtschule ist der richtige Weg, aber nicht für alle Schüler. Unsere Schule will integrierte Hauptrealschule werden. In gemischten Klassen gibt es Leistungsträger, an denen sich die Mitschüler orientieren können. Es fehlt auch die Unterstützung der Wirtschaft. Auf dem ersten Arbeitsmarkt haben Hauptschüler kaum Chancen.“

Christiane Zirbel, Gustave-Eiffel-Schule, Prenzlauer Berg: „Die Abschaffung der Hauptschule befürworte ich nur, wenn eine gute Alternative besteht. Zum Beispiel ein einheitliches Modell, dass alle Schüler eines Jahrgangs bis zur 9. oder 10. Klasse gemeinsam beschult werden. Wir brauchen individuelle Differenzierung und andere Lern- und Lehrmethoden, mehr vernetztes und projektbezogenes Lernen. Unsere Schule ist eine kombinierte Haupt- und Realschule. Der Unterricht ist getrennt, aber gemeinsame Kurse im Wahlpflichtbereich oder beim Sport und in der Projektarbeit werden von Lehrern und Schülern positiv beurteilt.“

Bernd Böttig, Eberhard-Klein-Oberschule, Kreuzberg: „Die Hauptschulen tragen alle Probleme des Schulsystems. Integrierte Hauptrealschulen, wie es sie in Hamburg gibt, wären eine Alternative. In solchen Schulen würde die Motivation der Kinder steigen, und sie wären nicht mehr so stigmatisiert, wie sie sich fühlen. Die Schüler empfinden es als Strafe, an eine Hauptschule zu gehen. Dabei sind die meisten Schulen besser als ihr Ruf. Bei uns lernen nur ausländische Kinder. Die Hauptschulen sollen inzwischen alle Randgruppen integrieren: Ausländer, sozial Schwache, Behinderte. Aber diese Integration könnte jeder Schultyp leisten.“

Dietmar Ebert, Jean-Piaget-Oberschule, Hellersdorf: „Wir brauchen eine grundlegende Strukturänderung. Eine weitere Zerklüftung ist nicht der richtige Weg. Initiativen für Hauptschulen, ein Projekt hier, noch eine pädagogische Krisenstation dort, lösen das gesamtgesellschaftliche Problem nicht. Gut finde ich das Modell einer einheitlichen Oberschule bis zur 9. oder 10. Klasse. Wichtig wäre auch die stärkere Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, dem schulpsychologischen Dienst oder der Jugendgerichtshilfe. Vor allem braucht man die Perspektive, dass die Wirtschaft auch Schüler mit diesem Bildungsniveau wieder abnimmt.“

Dieter Hohn, Direktor Pommern-Oberschule, Charlottenburg: „Ich bin schon lange für die Abschaffung. Wir brauchen eine Sekundarschule mit einheitlichem Unterricht für Haupt- und Realschüler bis zur 10. Klasse. Ausgrenzung von lernschwachen Schülern sollten wir verhindern. Die Schülerzahl von 1.000 an Gesamtschulen halte ich für zu hoch. Mehr als 400 Schüler sollten nicht auf eine Schule gehen. Oft sind die Eltern das größere Problem als die Schüler: Sie erfüllen ihren Bildungsauftrag nicht oder schicken ihre Kinder zu spät und ohne Frühstück zur Schule.“

Protokolliert von JULIANE GRINGERund ULRIKE LINZER