: Sprache erzeugt Skepsis
Das Freie Werkstatt Theater Köln zeigt „Gottes vergessene Kinder“, eine Gemeinschaftsproduktion hörender und gehörloser DarstellerInnen. Das Stück wirft die Frage auf, wer auf wen zugehen sollte
Von Holger Möhlmann
„Solange du mich nicht ein Ich sein lässt, so wie du eins bist, kannst du nie in mein Schweigen eindringen und mich kennen lernen. Und ich werde mich dagegen wehren, dich kennen zu lernen.“
Die das sagt, heißt Sarah, ist die Hauptfigur des Theaterstücks „Gottes vergessene Kinder“ und arbeitet als Putzfrau in ihrer ehemaligen Schule, einem Internat für Gehörlose. Der Adressat ihrer apodiktischen Worte ist ihr Mann James und ebenfalls dort angestellt: Als hörender Lehrer soll er seine Schüler für die Lautsprache begeistern. Hier in der Schule, wo Töne und Gebärden aufeinander treffen, haben James und Sarah sich ineinander verliebt.
Kennen gelernt haben sie sich nicht. Zu verschieden sind die Welten: Sarah, die aufgrund ihrer Erfahrungen schon lange mit der Sprache der Hörenden abgeschlossen hat, wünscht sich, dass James ihr Leben jenseits mühsam artikulierter Lautfolgen akzeptiert. Doch er, der Idealist und Sprachmissionar, will seine Frau zum Sprechen bringen, hält sein Drängen für Ermutigung, seine Wunschvorstellung für das einzig richtige Ziel. Bereits seit 1979 macht „Gottes vergessene Kinder“ von Mark Medoff auf das Lebensgefühl gehörloser Menschen aufmerksam. Mitte der 80er Jahre sensibilisierte die Verfilmung Millionen Zuschauer für die Missverständnisse, die im Kontakt mit der hörenden Umwelt so oft entstehen.
Am Kölner Freien Werkstatt Theater feiert das Stück nun als Gemeinschaftsprojekt von hörenden und nicht hörenden Darstellern Premiere. Regisseurin Stefanie Mühle fand ihre Mitwirkenden unter anderem an der Rheinischen Schule für Hörgeschädigte in Köln-Lindenthal: Fünf SchülerInnen zwischen 14 und 16 Jahren konnten als Mitspieler gewonnen werden.
Wer ihnen beim Proben – immer mit Gebärdendolmetscherin – zuschaut, gewinnt einen doppelten Eindruck: Zum einen wird klar, dass die Konflikte des Stücks vor allem uns Hörenden Anlass zur Reflexion geben, weniger den SchülerInnen, die das alles längst aus ihrem Alltag kennen; Minderheiten irritieren eben Mehrheiten stärker als umgekehrt. Zum anderen entsteht eine Ahnung davon, welchen Druck die hörende Gesellschaft noch immer auf Menschen ohne Gehör ausübt.
Nicht alle ihrer Lehrkräfte beherrschten fließend die Gebärdensprache, verraten die Jugendlichen, vieles sei von der Tafel oder den Lippen abzulesen. Speziellen Unterricht in der Lautsprache gibt es nicht, aber viele SchülerInnen gehen zum Logopäden. Nicht immer begeistert: Die Lautsprache ist ein Lernstoff unter vielen, man lernt sie gern oder nicht, wie Mathe oder Bio.
Außerdem reizen Allgegenwart und übermächtige Stellung der Lautsprache zum Widerstand: „Ich gehe zum Logopäden, aber ich habe gar keine Lust dazu“, sagt die 14-jährige Sarah, deren Name mit dem der Hauptfigur im Stück übereinstimmt. Für sie ist das Erlernen der Lautsprache ein notwendiges Übel, dem sie skeptisch gegenübersteht. Zu Hause fühlt sie sich in der Gebärdensprache, die in Deutschland nach wie vor nur wenige Hörende lernen. In Ländern wie der Türkei oder Italien sei das anders, dort seien die Menschen eben offener, findet Sarah.
Stücke wie „Gottes vergessene Kinder“ werfen die Frage auf, wer in einer Gesellschaft auf wen zugehen sollte, in welchem Maße und unter welchen Vorzeichen. Die Inszenierung am Freien Werkstatt Theater sucht keine endgültigen Antworten, möchte aber den Erfahrungen gehörloser Menschen in unserer lauten Gesellschaft ein Forum geben.
„Gottes vergessene Kinder“: Freies Werkstatt Theater, Zugweg 10, Tel. 0221/32 78 17, Premiere: 11.12., auch 12.12., jeweils 19 Uhr