Ungeregelte Zukunft bei den Dienstleistungen

Pflegedienste ohne Sozialversicherung, Forstarbeiter ohne Lärmschutz – EU-Kommission will befristete Tätigkeiten liberalisieren, die grenzüberschreitend angeboten werden. Kritiker formieren sich. Kongress von Attac und Ver.di

BERLIN taz ■ Der Pflegedienst, der die alte Dame betreut, kommt von jenseits der Grenze. Die Pflegerinnen sind freundlich, aber nach einigen Nachfragen stellt sich heraus, dass sie von medizinischer Versorgung nicht allzu viel Ahnung haben. Eine solide Ausbildung fehlt ihnen ebenso wie eine eigene Sozialversicherung. Deshalb sind sie ziemlich billig.

Ein Szenario, das heute noch nicht real ist, künftig aber durchaus alltäglich werden könnte. Die Liberalisierung grenzüberschreitender Dienstleistungen ist das große Projekt des ehemaligen EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein. Allmählich spricht sich herum, welche Kraft die so genannte EU-Dienstleistungsrichtlinie entfalten könnte. Nachdem Bolkestein sie im Januar 2004 als Entwurf vorgelegt hat, startet jetzt die öffentliche Diskussion. Heute veranstalten die Gewerkschaft Ver.di und das globalisierungskritische Netzwerk Attac einen Kongress in Berlin, der sich mit den möglichen Auswirkungen beschäftigt.

Das Ziel der EU-Binnenmarktkommission ist es, den grenzüberschreitenden Austausch von Dienstleistungen möglichst zu erleichtern. Saarländische Tischler könnten dann ihre Dienste im französischen Elsass, polnische Autovermieter ihre Wagen in Leipzig und portugiesische Reisebüros ihre Vermittlung in Madrid anbieten.

Der entscheidende Punkt: Immer würde das Recht des Herkunftslandes gelten, nicht des Staates, in dem die Dienstleistung tatsächlich stattfindet. Weil die deutsche Verwaltung beispielsweise nicht mehr kontrollieren dürfte, ob die importierten Beschäftigten aus dem Ausland sozialversichert sind, könnte es etwa in der Pflegebranche zu Lohn- und auch Qualitätsdumping kommen. Für die SPD-Bundestagsabgeordnete Sigrid Skarpelis-Sperk ist die beabsichtigte Liberalisierung deshalb „das wohl brisanteste politische Projekt der Europäischen Union der letzten Jahre“.

Bevor die Richtlinie im ersten Halbjahr 2005 erstmals im Europäischen Parlament beraten wird, verspricht die öffentliche Diskussion sehr munter zu werden. Die Kritik reicht mittlerweile bis in Verbände des Mittelstandes und die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP). Auch in den grünen Bundesministerien für Umwelt und Landwirtschaft ist man mit vielen Punkten nicht zufrieden. So stört sich Umweltminister Jürgen Trittin daran, dass der deutsche Lärmschutz ausgehebelt werden könnte, wenn ausländische Forstarbeiter mit zu lauten Kettensägen den einheimischen Bäumen zu Stamme rücken. Grundsätzlich begrüßt Trittin die Bolkestein-Richtlinie aber.

Geradezu begeistert ist SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. In einer Rede vor der Evangelischen Akademie Tutzing plädierte er unlängst für die Deregulierung des Dienstleistungssektors.

Die Unterstützer auch in den Spitzenverbänden der Industrie weisen darauf hin, dass die Liberalisierung nur befristete Dienstleistungen betreffe. Außerdem gebe es viele Ausnahmen. Dazu gehörten beispielsweise alle staatlichen Dienstleistungen.

HANNES KOCH