jazzkolumne
: In der Zwischenzeit

Rückblick auf ein Jahr, dessen bemerkenswerte Stücke auf einer einzigen Best-of-CD Platz hätten

Man kann sich William Claxtons „Jazzkalender“ (Taschen Verlag) an die Wand hängen und schauen, wie cool Jazz aussehen kann. Man kann in Ekkehard Josts neu bearbeiteter „Sozialgeschichte des Jazz“ (Zweitausendeins Verlag) lesen, wie hip die schwarze Kultur unlängst noch war. Wenn man William Parkers „Scrapbook“ (Thirsty Ear Records), die Wiederveröffentlichung des Archie-Shepp-Albums „Attica Blues“ (Impulse!), Joe Lovanos „On this day“ (Blue Note) und E.S.T. mit „Seven Days of Falling“ (Act) schon hat und sich jetzt nur noch eine CD aus diesem Jahr wünschen dürfte, fiele die Entscheidung nicht schwer. Die guten Stücke dieses Jahres passen auf eine Best-of-Compilation. Richtig notwendige Alben erschienen in den vergangenen zwölf Monaten nur wenige.

Vieles, was 2003 an Jazz veröffentlicht wurde, litt unter dem Zwang der Industrie, irgendwie überleben zu müssen. Für den Blue-Note-Manager Tom Evered bleibt der anhaltende Norah-Jones-Erfolg, der die Jazzfirma vor dem Aus bewahrte, dennoch ein Rätsel, ja, ein Wunder. So etwas könne man nicht planen, sagte er der amerikanischen Zeitschrift Jazz Times anlässlich ihrer aktuellen Coverstory mit dem Titel „Retten Sängerinnen die Jazzindustrie?“.

Die Billboard-Verkaufscharts sprechen eine deutliche Sprache: Unter den Top 10 der meistverkauften Mainstream-Jazzplatten gab es im Jahr 2002 neun Gesangs-CDs, die einzige Instrumental-CD in dieser Liste war eine John-Coltrane-Wiederveröffentlichung. Evered stellte auch fest, dass es Blue Note im Falle von „Bounce“, dem aktuellen Album des Trompeters Terence Blanchard, nicht gelang, an den Verkaufserfolg des gesangsorientierten Vorgängers „Let’s Get Lost“ mit Gastauftritten von Diana Krall, Jane Monheit, Dianne Reeves und Cassandra Wilson anzuknüpfen.

Zu den offiziellen Highlights dieses Jahres gehört neben Cassandra Wilsons „Glamoured“ (Blue Note) mit Songs von Muddy Waters und Bob Dylan auch das von Arif Martin produzierte Dianne-Reeves-Album „A Little Moonlight“ (Blue Note), das gerade für einen Grammy nominiert wurde. Martin, der früher auch Aretha Franklin produzierte, hatte sein Produzentencomeback mit Norah Jones’ „Come Away With Me“ und ist Old School wie Tommy LiPuma, der Produzent von Diana Krall. Neben der schönen „Moonglow“ (Milestone) von Jimmy Scott gehören auch Stücke von der selbst produzierten Shirley-Horn-CD „May the Music Never End“ (Verve) in die Jahressammlung der guten Songs.

Das Problem dieser Platten ist allerdings, dass ein neuer Song pro Jahr und Interpret durchaus reichen würde. Wer braucht alle zwei Jahre eine neue Cassandra-Wilson-CD, solange eine wie die andere klingt? Von der neuen reicht der Opener, Stings „Fragile“, um zu wissen, wie es weitergeht. Kein Wunder, dass das Copy-Kills-Syndrom der Industrie mittlerweile auch den Jazz infiziert hat. Selbst der Saxofonist Michael Brecker sagt, dass er sich keine CDs mehr kaufe, sondern sich den Song, den er gern hören wolle, für 99 Cents aus dem Apple-Shop herunterlade.

Wem dieser sehr zeitgemäße Umgang mit Musik nicht ausreicht, für den gibt es die Fachzeitschriften. Was früher hinten auf die Plattenhüllen passte, steht jetzt da drin. Fast völlig von Anzeigen der Musikindustrie abhängig, begibt man sich dort auch nicht in Gefahr, etwas Kritisches über das Genre, seine Protagonisten und ihre Werke lesen zu müssen.

Der Musikwissenschaftler und Sänger Ben Sidran hat darauf hingewiesen, dass sich besonders die schwarze Musik durch den Einfluss der Technologie auf die Produktion grundlegend verändert habe. Als er Ende der Sechzigerjahre „Black Talk“ schrieb, sein Standardwerk über die oral culture des schwarzen Amerikas, war Technologie noch kein Thema. Die meisten Musiker gingen ins Studio und nahmen die Musik auf, die sie sonst in den Clubs spielten. Doch Multi-Track und Overdub haben die Musik verändert. Niemand habe voraussehen können, in welchem Umfang die schwarze Kultur von der Technologie untergraben werden würde, sagt Sidran heute. Die schwarze Kultur werde von der Technologie allmählich zerstört – heute werde sie nahezu vollständig im Aufnahmestudio zusammengesetzt.

Tatsächlich haben es die Musiker, die sich in der schwarzen Instrumentaltradition begreifen, in jüngster Zeit nicht leicht gehabt. Der Output dieses Jahres scheint sogar von einer trägen Unbestimmtheit und Saturiertheit gerade auch jener Musiker zu erzählen, die sich in der oral culture bewegen. Wenn man engagierte Musiker wie den Saxofonisten Greg Osby oder den Pianisten Matthew Shipp fragt, sprechen sie von Zwischenzeit. Inspiration sei vom afroamerikanischen Jazz dieser Tage kaum zu erwarten.

Zu den Ausnahmen gehört die neue CD des Saxofonisten James Carter, „Gardenias For Lady Day“ (Columbia), die in Deutschland nur als Import erhältlich ist. Mit seiner Version von „Strange Fruit“ hat er gerade den politischen Theme-Song im afroamerikanischen Jazz aktualisiert. Bemerkenswert war auch Donald Byrds „Think Twice“ auf dem aktuellen Erykah-Badu-Album „World Wide Underground“ (Motown), bei dem Roy Hargrove nicht nur ein paar Takte Neo-Soul-Meets-Jazz-Trompete spielt, sondern auch scatted.

Keine neue CD kann man vom Saxofonisten Ornette Coleman kaufen, obwohl er diesen Sommer in der New Yorker Carnegie Hall das beste Konzert des Jahres gab. CHRISTIAN BROECKING