: Passagier-Seelsorge in Terminal B
Eine Airport-Pfarrerin kümmert sich nicht nur um das Seelenheil, sondern ist auch Ansprechpartnerin für Mitarbeiter und in Notfällen
Antje Reichow lehnt am Info-Punkt im Terminal B. „airport pfarrerin“ steht auf dem Schild an ihrem Revers. Grauer Hosenanzug und rosafarbener Rollkragenpulli, schulterlange blonde Haare und hellwache Augen. Eine gertenschlanke, grundseriöse Erscheinung, die Vertrauen aussendet. Prompt kommt ein Nigerianer mit Kofferkuli, der gerade zur Medizinmesse in Düsseldorf gelandet ist, auf sie zu und fragt, wo er denn eine Smic-Card für sein Handy bekommen kann. Sie begleitet ihn zu einem Telefonladen und gibt ihm mit wenigen Worten das Gefühl, willkommen zu sein. Auch für praktische Hilfe kann eine Flughafenseelsorgerin gut sein.
Ein nasskalter Montagmorgen im November. Noch liegt der Düsseldorfer Flughafen im Halbschlaf. Nur wenige Menschen, meist Geschäftsreisende, checken ein, trinken eine Tasse Kaffee oder streben der Sicherheitskontrolle zu. Kaum zu glauben, dass hier 15.000 Mitarbeiter beschäftigt sind und an Spitzentagen bis zu 40.000 Passagiere abgefertigt werden. Auf ihrer Tour durch die Terminals geht Antje Reichow jeden Morgen zunächst zum Gedenkraum auf der Galerieebene. Er wurde zur Erinnerung an die Opfer des Flughafen-Großbrandes am 11. April 1996 gebaut. Der Brand hatte 17 Menschen das Leben gekostet. „Seitdem herrscht im gesamten Flughafen absolutes Kerzenverbot“, erklärt die Seelsorgerin. Diesen Raum der Stille besuchten Flughafenmitarbeiter und Passagiere aller Religionen zum Gebet oder zur Meditation, Taxifahrer gern auch zur Verschnaufpause, sagt sie. Im Gedenkbuch stehen Einträge wie: „Jetzt habe ich es geschafft. Ich bin Flugbegleiter geworden. Nur durch Gottes Hilfe.“ Oder: „Moslem ist kein Terrorist, Terrorist ist kein Moslem.“
„Das ist mein Lieblingsplatz und Gottesdienstraum!“ Vor dem Gedenkraum, in einer Ecke der Galerieebene, feiert sie fünf Mal im Jahr Gottesdienst. Am 22. Dezember das Mittwochmittagsgebet zum Thema Ankunft. Dann wird die leere Fläche zum Gottesdienst dekoriert. „Aus einem Tisch baue ich einen Altar, hier kommt das Stehpult hin, dort die Anlage, und da steht der Saxofon- oder Querflötenspieler.“ Früher war Antje Reichow Gemeindepfarrerin in Hünxe und Duisburg. Doch sie wollte sich verändern, denn „Gemeinden sind geschlossene Systeme“. Sie bewarb sich bei ihrer rheinischen Landeskirche und kam „durch Zufall“ zur Flughafen-Stelle, die allerdings immer noch nicht fest eingerichtet ist. Zwar gibt es auf den meisten größeren deutschen Flughäfen einen Pfarrer, aber Antje Reichow ist die einzige mit dem Schwerpunkt Passagierseelsorge. „Es ist der urchristliche Auftrag, uns um Reisende zu kümmern“, sagt sie und verweist auf die Geschichte vom barmherzigen Samariter, in der Jesus auf Menschen zugeht, die im Aufbruch sind, etwas brauchen oder in Not geraten sind.
Am 1. September 2001 hat sie ihren Dienst begonnen. Ein paar Tage später der 11. 9. „Dat war nix mit sanftem Einstieg“, fällt sie unvermittelt in tiefes Ruhrpott-Idiom. Ruck, zuck, war sie am Flughafen angekommen, musste stante pede Aufgaben bewältigen, die sie sich eigentlich ja gewünscht hatte. Sie nahm Passagiere, die aus New York zurückkamen und denen das Entsetzen in den Gesichtern stand, in Empfang und führte Gespräche mit Geschäftsleuten, die beruflich in die USA fliegen mussten und deren Familien Angst hatten.
Von der Galerie schaut die Seelsorgerin wie von einer Kanzel runter auf den Check-in-Bereich. Hier seien die Passagiere noch beschäftigt, aber nachdem sie ihre Koffer aufgegeben und die Sicherheitskontrollen passiert hätten, hätten sie nichts mehr zu tun. „Hat jemand Flugangst, kommt sie spätestens in diesem Moment hoch“, sagt Antje Reichow. Selbst viele Geschäftsleute litten unter Flugangst, doch wer seinen Job behalten wolle, müsse fliegen. Die Pfarrerin reizt die Schwellensituation, der Flughafen als Ort des Aufbruchs. Die Menschen seien sensibler als woanders, das Fliegen mache ihnen zunehmend Angst, besonders nach den Terrorakten in New York. „Sie brauchen Sicherheit, Begleitung, das seelsorgerische Gespräch.“ Mit wachem Blick streift sie durch die Gates und beobachtet die Körpersprache der Menschen: Sind sie traurig? Nervös? Ängstlich? Würde ihnen ein Kontakt helfen?
„Gutes Potenzial heute!“, frohlockt sie. Wenn Leute einzeln sitzen, wie der alte Mann in Gate B 06, dann sei die Annäherung leichter. Sorgfältig schält er eine Banane und schaut durch das Fenster auf die Aeroflot-Maschine. „Fliegen Sie allein?“, spricht ihn die Pfarrerin mit fester Stimme an. Der Mann schaut hoch und sprudelt auf Kölsch los. Ja, seine Frau sei schwer zuckerkrank und streng katholisch. Er freue sich auf zwei Wochen Mallorca, alles inklusive. „Schade, dass Ihre Frau nicht mitfliegt“, bedauert die Seelsorgerin. „Nee“, antwortet der Mann, „ein Esoteriker ist nie allein. Ich bin ja immer mit kosmischen Mächten in Kontakt.“ Antje Reichow lässt dem alten Mann Raum zum Reden. Beim Abschied gibt sie ihm eine Postkarte mit einem Reisesegen auf den Weg. Der Mann habe ein Riesenproblem mit seiner Frau, sagt die Pfarrerin später und fragt sich, was Menschen in die Esoterik treibt.
Die Nächste, bitte! Antje Reichow beäugt eine Frau mit Dutt und Thrombosestrümpfen, die nervös durch das Gate tigert, bis sie sich schließlich hinsetzt und Werbeprospekte durchblättert. „Für die Sonderangebote kommen Sie aber zu spät“, frotzelt die Pfarrerin und hat wieder den richtigen Aufhänger gefunden. Sofort fasst die Frau Vertrauen zu ihr und erzählt Lebensfragmente im Zeitraffer. Seit 37 Jahren lebe sie mit Familie in den USA, einmal im Jahr besuche sie ihre 89-jährige Mutter zum Geburtstag, ihre Schwägerin wolle die Mutter jetzt ins Heim bringen. Den Abschied von der Mutter hat sie sichtlich nicht verkraftet. Es könnte das letzte Mal gewesen sein. „Mir kam es darauf an, dass die Frau ihren Scheiß losgeworden ist“, spricht Antje Reichow Klartext, „vor allem ihre Wut auf die Schwägerin.“
Die Airport-Pfarrerin kümmert sich aber nicht nur um das Seelenheil der Passagiere, sondern ist auch Ansprechpartnerin für die Nöte der Mitarbeiter, macht den psychosozialen Teil von Krisenschulungen und ist in die Notfallplanung des Flughafens eingebunden. Ein Berg von Aufgaben, die sie allein kaum mehr bewältigen kann. Deshalb möchte Antje Reichow zukünftig zwölf Ehrenamtliche pro Jahr in Gesprächsführung zur Passagierseelsorge ausbilden, die sie entlasten. Dafür sucht sie händeringend Sponsoren bei Airlines, dem Flughafen, großen Firmen.
Ihr Handy klingelt. „Ein Notfall“, sagt die Pfarrerin, „schon der fünfte Notfall in zwei Wochen.“ Notfall hat immer mit Tod zu tun. Gleich wird eine Hapag-Lloyd-Maschine aus Djerba landen mit einer Frau, die ihren Urlaub abbrechen musste, weil ihre Tochter in der Düsseldorfer Wohnung ermordet wurde. Sie muss die Frau empfangen und seelsorgerisch betreuen. Auf einmal wirkt sie verschlossen, ganz in sich gekehrt, volle Konzentration voraus. „Notfälle gehen immer vor“, sagt sie, verabschiedet sich und sprintet los.