: Warten auf die Abschieber
Der 19-jährige Sia gehört zu mehreren hundert afghanischen Männern, die Hamburg zuvörderst abschieben will. Jetzt fürchtet der Schüler nicht nur um sein Abitur. Vor vier Jahren war er in Afghanistan in die Fänge von Taliban-Milizen geraten
Von EVA WEIKERT
Sie haben ihn in einen dunklen Raum entführt und wie auf einen Sack auf ihn eingeschlagen. Dann wurde er an den Beinen aufgehängt und mit Kabeln gepeitscht. Das erzählt Sia Solani, 19, Wohnsitz Hamburg. Die Folter hat der Gymnasiast vor vier Jahren in seiner Geburtsstadt Herat in Afghanistan erlitten. Die Täter waren Milizen der radikal-islamischen Taliban, die bis heute weite Teile des kriegszerstörten Landes beherrschen. Jetzt zwingt der Hamburger Senat Sia dorthin zurück. Der Schüler sagt: „Das kann mir das Leben kosten.“
Sia ist einer von Tausenden Afghanen, die Hamburg bald rauswirft. Als einziges Bundesland kündigte es auf der letzten Innenministerkonferenz an, ab dem Frühjahr nicht nur Straftäter, sondern auch „allein stehende männliche Afghanen“ abzuschieben. Die Singles bilden aber nur den Auftakt (siehe Kasten). Innenbehörden-Sprecher Marco Haase versichert: „Die Rückführungen erfolgen nur, wenn die Sicherheitslage es zulässt.“
Die verschärft sich derzeit jedoch massiv. Die vor zwei Jahren gestürzten Taliban haben sich erneut Teile des Landes unterworfen. Die Hälfte des Gebiets stufen darum die Vereinten Nationen als unsicher ein. Auch das Auswärtige Amt warnt, insbesondere Rückkehrer würden häufig Opfer von Überfällen. „Wir werden als Christen beschimpft und angespuckt“, erregt sich Sia. „Dort bin ich kein Afghane, sondern ein Abtrünniger.“
Sia wird nach Herat im Westen Afghanistans zurückkehren, wo er 1984 in der Zeit des Bürgerkriegs mit den sowjetischen Besatzern geboren ist. „Dort erwartet mich nichts“, sagt der Oberstufenschüler resigniert. Sia hat drei Angehörige in den politischen Kämpfen der vergangenen zwei Jahrzehnte verloren: Seine Mutter wurde im Bürgerkrieg von einer Kugel getötet, als er nicht einmal ein Jahr alt war. Wenig später ermordeten die islamischen Mudschaheddin einen seiner drei Brüder, „weil dieser im sowjetischen Satellitenstaat CSSR studiert hatte“, vermutet Sia. Sein Vater, ein Geologe, starb unter ungeklärten Umständen, kurz nachdem Sia im Winter 1999 vor den Taliban nach Deutschland geflohen war.
„Dabei war unsere Familie nie politisch aktiv“, sagt die Waise. Das Aufbegehren gegen einseitigen Schulunterricht hätte auch ihn fast das Leben gekostet. Wegen mehrfachen Protests gegen die Propaganda des Taliban-Regimes „wurden ich und einige Mitschüler eines Tages von Milizen aus der Klasse geholt“, berichtet der damals 15-Jährige. „Die wollten wissen, ob wir zu einer Organisation gehören.“ Sia spricht von Folter: Ihm seien trocken die Haare rasiert worden. „Sie schlugen uns mit Stöcken, bis die durchbrachen.“
Bevor seine Peiniger ihn laufen ließen, hätten sie ihn mit dem Tod bedroht. Noch in der Nacht nach der Tortur schaffte ihn sein Bruder Nassar aus der Stadt. Später brachten Schlepper den Jugendlichen für 6.000 US-Dollar per Flugzeug und Bus nach Hamburg. „Am Berliner Tor ließen sie mich raus und zeigten dabei auf die afghanische Moschee.“ Fünf Mark habe er besessen und keine Papiere.
Heute teilt Sia sich mit zwei Jugendlichen eine Wohnung an der Oberschlesischen Straße. An den Wänden hängen Poster, die afghanische Landschaften zeigen. Ein Globus und Bücher füllen den Schreibtisch. In zwei Jahren stünden die Abitur-Prüfungen an. „In Afghanistan gilt man schon mit 15 als erwachsen, da lässt mich keiner mehr auf eine Schule“, sagt Sia, der Chemieassistent werden will.
Zwischen der scheinbaren Integrations-Idylle und seiner Ankunft Anfang 2000 liegen Monate auf dem Flüchtlingsschiff Bibby Altona und einem Kinderheim sowie ungezählte Stunden bei Polizei und Ausländerbehörde, wo Beamte ihn beschuldigt hätten, sich den Aufenthalt durch Fälschung seines Alters zu erschleichen. „Und ich dachte, ich käme in eine aufgeklärte Gesellschaft.“ Die Zweifel wuchsen, als er von unangekündigten nächtlichen Abschiebungen der Behörde erfuhr, die Flüchtlingsorganisationen immer wieder anprangern. Sia hat jetzt Angst: „Hoffentlich holen die mich nicht mitten in der Nacht ab.“