„Die Generation Golf macht Unisex“

Karl-Heinz Steinle

„Ich würde sagen, dass Homosexualität in der Form, in der sie im Moment öffentlich dargestellt wird, vielleicht für Überdruss sorgt. Dabei gibt es so viele Facetten“

Das Schwule Museum in Kreuzberg – weltweit einzigartig – zeigt einen Rückblick auf 200 Jahre schwule Geschichte. Karl Heinz-Steinle, 42, ist Projektleiter der Ausstellung mit dem Titel „Selbstbewusstsein und Beharrlichkeit“. Seit 1996 arbeitet er an dem Museum. Der gelernte Historiker und Slawist stammt aus der baden-württembergischen Provinz und kam in den 1980er-Jahren zum Studium nach Berlin. Die Ausstellung erzählt die Geschichte einer Minderheit aus dem Blickwinkel der Betroffenen und zeigt das historische Fundament, auf dem das heutige schwule Selbstverständnis ruht.

INTERVIEW MARTIN REICHERT

taz: Herr Steinle, in welchem Alter hatten Sie Ihr Coming-out?

Karl-Heinz Steinle: Ich war 16 und mein bester Schulfreund wurde für über zwei Jahre mein Freund, einfach so – und das in einem kleinem Dorf in der Nähe von Maulbronn im Schwabenland. Dann hatte ich eine Freundin, dann wieder einen Freund. Schwulsein wurde für mich erst mit 19 zum Thema, da war ich auch zum ersten Mal in einem Plüsch-Homo-Club in Karlsruhe – das fand ich damals eher grauenhaft. Ich wurde dann gleich recht radikal und fand die alle spießig und angepasst.

Das ist Ihre eigene schwule Geschichte – und wann haben Sie angefangen, sich darüber hinaus mit schwuler Geschichte zu beschäftigen?

Ich habe Geschichte und Slawistik studiert in Heidelberg und Berlin. Als ich dann in Berlin war, habe ich angefangen, mich speziell für schwule Geschichte zu interessieren. Und da ich ja auch unter anderem osteuropäische Geschichte studiert habe, interessierte ich mich zunächst besonders für Homosexuelle in Russland.

War das denn unproblematisch? Es gibt doch in der Geschichtsforschung kaum einen Zugang, kaum Quellen zum Thema Homosexualität.

So etwas wie Homostudien gab es zu meiner Zeit, also in den Achtzigerjahren, noch gar nicht.

Ist dieser ganze Bereich nicht dennoch komplett marginalisiert innerhalb der Geschichtsforschung?

Nach meiner Einschätzung ist das immer noch marginalisiert, aber weniger als noch vor zehn Jahren. Damals wurde man mit diesem Thema bei Historiker-Institutionen regelrecht schroff abgelehnt – etwa beim Haus der deutschen Geschichte in Bonn oder beim Münchner Institut für Zeitgeschichte.

Kann man sich als angehender Historiker mit dem Forschungsgegenstand Homosexualität die Karriere versauen?

Ich habe mir meine Karriere damit aufgebaut – wenn auch auf niedrigem Niveau. Insofern bin ich ein schlechtes Beispiel. Was eine Universitätskarriere angeht: Das wäre schwierig gewesen. Ich glaube aber, dass es jetzt geht. Schauen Sie sich die ganze Gender-Forschung an den Universitäten an, da geht eine ganze Menge.

Das führt uns zu den Lesben. Sind die auch Teil der gerade eröffneten Dauerausstellung im Schwulen Museum?

Nein, das hier ist ja doch das schwule Museum.

Warum ist das so stark getrennt? Die „Bewegung“ umfasst doch Schwule und Lesben?

Es gab immer Punkte einer Zusammenarbeit, aber es gab unterschiedliche Entwicklungen. Die Lesben haben sich viel stärker an der Frauenemanzipation, an der Frauenfrage aufgehangen. Sie sind andere Wege gegangen als die Emanzipationsbewegung der Schwulen. Erst jetzt, also seit den Neunzigerjahren, gibt es eine neue Generation.

Die so genannte „Generation Golf“?

Ja. Die macht Unisex. Die Weiber hocken sich gerne in den Männer-Golf, und die Männer in den Weiber-Golf. Die sehen das nicht mehr so verbissen.

Ist denn dann ein rein schwules Museum noch zeitgemäß?

Das Schwule Museum hat immer auch lesbische Themen behandelt. Letztes Jahr gab es zum Beispiel die Ausstellung „Mittenmang“ – Homosexuelle Männer und Frauen zwischen 1945 und 1969.

Ist die Beschäftigung mit schwuler Geschichte für Sie selbst eine Hilfestellung gewesen, um sich so etwas wie eine „schwule Identität“ aufzubauen?

Also was mir sehr gut getan hat, war der Kontakt zu älteren schwulen Männern und lesbischen Frauen, weil die so etwas wie meine Onkel und Tanten waren – oder Väter oder Mütter.

Ein solcher Kontakt zwischen den Generationen ist in der Homoszene eher unüblich, oder?

Das war mir aber wichtig, und dieser Kontakt hat mir in der Szene auch gefehlt – kein Sexkontakt übrigens. Meine Vorstellung von einem erfüllten Leben wäre es, mehrere Generationen unter einem Dach zu versammeln – übrigens auch Heteroopis und -onkels.

Ist auch eine Dauerausstellung zum Thema schwule Geschichte identitätsstiftend?

Diese Ausstellung soll zum einen ganz konkrete Fakten zeigen, Geschichte zu dokumentieren, was schwierig ist. Dann soll sie aber auch andererseits darstellen, dass schwules Leben schon immer sehr vielfältig war. Es gibt nicht nur die so genannte Schwulenbewegung, es gibt eine Abfolge, eine Perlenkette von privaten Zirkeln, von Freundeskreisen, die immer Vorläufer für eine neue Form von „Bewegung“ waren. Die Ausstellung soll schon auch zeigen, dass es nicht das Bild von „den Schwulen“ gibt. Es gab immer verschiedenste Ebenen – eben auch schwule Nazis oder schwule Arschlöcher. Diese Ausstellung zeigt allerdings die Geschichte aus den Augen der Homoprotagonisten und nicht aus der ihrer Verfolger und Unterdrücker beziehungsweise der Spießer.

Was könnte ein Besucher der Ausstellung lernen?

Wenn ich unter dem Homoaspekt eine Frage stelle, die in anderen Bereichen schon hundertmal gestellt wurde, dann bekomme ich garantiert eine ganz andere, neue Antwort. Die kann dann wiederum von anderen benutzt werden. Es handelt sich um einen spannenden Seitenblick.

Ist der Umgang mit Schwulen und Lesben in der Geschichte eine Art Prüfstein?

Auf jeden Fall. Der Umgang mit Minderheiten sagt immer etwas über den Zustand einer Gesellschaft aus.

Wird die Ausstellung auch von gesellschaftlichen Institutionen finanziert?

Sie ist durch eine großzügige Zuwendung der Stiftung Deutsche Klassenlotterie zustande gekommen. Danach wie davor ist das Schwule Museum auf Eintrittsgelder und Spenden angewiesen.

Auch ein schwuler Bürgermeister hat daran nichts geändert?

Nein. Übrigens sind wir das weltweit erste und bislang einzige Museum dieser Art – in San Francisco sitzen sie immer noch in den Startlöchern.

Zieht das Schwule Museum auch internationales Publikum an?

Für Amerikaner zum Beispiel ist die schwule Geschichte Berlins eine wichtige Attraktion – deren Bild von Berlin ist geprägt von Isherwoods „Good bye to Berlin“ und dessen Adaption „Cabaret“. Die kommen dann nach Berlin und suchen nach genau dieser Atmosphäre.

Werden sie fündig?

Zumindest treffen sie auf einen neuen Mythos, den der Neunzigerjahre.

Die können als eine Art Hochzeit der Homosexualität bezeichnet werden. Gibt es jetzt eine Übersättigung?

Ich würde sagen, dass Homosexualität in der Form, in der sie im Moment öffentlich dargestellt wird, vielleicht für Überdruss sorgt – dabei gibt es so viele Facetten.

Es gab immer eine große schwule Vielfalt. Doch heute gibt es vor allem eine von außen klar identifizierbare – da sichtbare – schwule Community inklusive Selbstgettoisierung.

Ich glaube nicht, dass zum Beispiel eine Zeitschrift wie die Siegessäule alles vertritt. Dort wird auch nur ein gewisser Kreis gehypet.

Welche schwulen Welten gibt es denn, von denen man gar nichts weiß?

Es gibt die älteren Schwulen, die Patchworkfamilien, die es übrigens schon um 1900 gegeben hat. Also zum Beispiel Männer, die trotz ihres Schwulseins eine Familie haben. Überhaupt gibt es natürlich Schwule, die man nie in der „Szene“ zu sehen kriegt.

Auch Ihre Ausstellung bildet nicht alle Teile der schwulen Emanzipation ab. Wie steht es beispielsweise mit der Knabenliebe?

Das ist keine konkret bewusste Abgrenzung. Knabenliebe war ja letztendlich in ganz bestimmten Jahrzehnten das Sinnbild für Homosexualität. Es handelte sich dabei aber stets um Jünglinge, Epheben, nicht um Kinder.

Dennoch scheint der ganze Bereich Knabenliebe oder auch „pädagogischer Eros“ ausgeblendet. Gehört das nicht auch zur schwulen Geschichte?

Dieser ganze Themenzusammenhang hat in unterschiedlichen Jahrzehnten unterschiedliche Bewertungen erfahren. In den Siebzigerjahren gab es konkrete Kongresse und Zeitschriften, in denen es um pädophile „Emanzipation“ ging – da wurde heftig gestritten: Dürfen die unter unserer Flagge laufen? Am Ende lautete die Antwort richtigerweise: nein.

Was hat es auf sich mit der Knabenliebe?

Bis in die Fünfzigerjahre ist alles von den Zwanzigerjahren beeinflusst, die wiederum von antiken ästhetischen Vorstellungen dominiert waren. Das änderte sich erst in den Sechzigerjahren mit dem Einfluss aus Amerika. Bodybuilder, die sich berühren! Erst dann taucht überhaupt der Mann auf, der schließlich den Knaben als Schönheitsideal ablöst. Vorher hatte immer der Knabe als Chiffre funktioniert, denken Sie an Ganymed und Zeus. Darstellungen von jungen Männern werden Sie durchaus in der Ausstellung finden.

Gibt es eine Epoche der schwulen Geschichte, in die Sie sich zurücksehnen?

Ja, die Zwanzigerjahre in Berlin. Aber nur für eine Woche.

Was hätte Sie daran gereizt?

Ach, einfach aus Neugierde. Ich würde jedoch mit meiner eigenen Jugendzeit nicht tauschen wollen. Auch da galt es schließlich, etwas auszuprobieren. Heute muss man da schneller sein – es gilt schließlich, sich um seine Karriere zu kümmern. Außerdem muss man sich heute so schnell festlegen: Bist du schwul, bist du bi, bist du hetero …

Gibt es irgendeinen Grund für einen Familienausflug ins Schwule Museum?

Unbedingt, denn es ist immer von Interesse, wie eine Emanzipationsbewegung zustande gekommen ist. Außerdem ist diese Ausstellung ein Beitrag zur deutschen Geschichte.

Das Schwule Museum am Mehringdamm 61 ist täglich (außer dienstags) geöffnet von 14 bis 18 Uhr, samstags bis 19 Uhr. Weitere Infos unter: www.SchwulesMuseum.de