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Archiv-Artikel

Hier geboren, Chance verspielt?

Richter werten Beschaffungskriminalität eines hier geborenen Sohnes türkischer Einwanderer als Ausweisungsgrund. Seine Drogensucht und HIV-Infektion werden dabei nicht berücksichtigt

Der Leiter des Gesundheitsamtes: „Das ist ein Bremer Fall Mehmet“Die Richter: „Für das Scheitern eines Entzugs trägt er sein eigenes Lebensrisiko“

Bremen taz ■ Wahrscheinlich hätte Iskender C.* eine Chance gehabt, wenn seine eingewanderten Eltern nur Geld hätten. Seine Drogensucht wäre dann nicht so auffällig in Beschaffungskriminalität gemündet –und der 26-jährige in Bremen geborene Sohn türkischer Einwanderer würde deswegen nicht abgeschoben.

Dies steht dem Bremer nun bevor: Das Oberverwaltungsgericht hat eine Beschwerde seines Anwaltes gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts zurückgewiesen. Trotz HIV-Erkrankung muss der Mann in die türkische Heimat seiner Eltern ausreisen, die er zuletzt bei einem Besuch vor neun Jahren sah. Gelebt hat er dort nie.

Iskender C. gehört damit zu einer kleinen Gruppe mittlerweile erwachsener Einwandererkinder, die im Leben gescheitert sind, aber aus Deutschland abgeschoben werden können, weil sie zu Kinderzeiten nicht die Chance auf einen deutschen Pass hatten. Genauer: Weil die rot-grüne Reform des Staatsbürgerschaftsrechts für sie zu spät kam. Drogenkranke Intensivtäter mit einem türkischen Pass aber braucht Deutschland nicht einmal dann zu dulden, wenn sie hier geboren sind und die gesamte Familie hier lebt – wie es bei Iskender C. der Fall ist. Das hat die Bremer Ausländerbehörde vom Verwaltungsgericht schriftlich bekommen. Auch dass die Eltern des Mannes hier seinen Unterhalt bestreiten, fällt rechtlich nicht ins Gewicht.

„Ein Bremer Fall Mehmet“, folgert der Leiter des Gesundheitsamtes der Hansestadt, Jochen Zenker. Die HIV-Infektion des jungen Mannes und die Tatsache, dass dieser mit der Ersatzdroge Methadon in der Türkei nicht versorgt werden könne, stellten Verpflichtungen für ärztliche Fürsorge dar.

Die Richter mochten die gesundheits-, wenn nicht lebensbedrohlichen Folgen einer Abschiebung Iskender C.‘s so aber nicht erkennen. Dem erwerbslosen Mann würde mit öffentlichen Mitteln zuvor ein kontrollierter Methadon-Entzug bezahlt werden müssen. Nehme er daran allerdings nicht teil, so habe er „in eigenverantworteter Weise“ die Folgen zu tragen. Bekannte Nebenwirkungen sind Herzrasen - bis hin zum Kollaps.

„Drogensucht ist eine seelische Krankheit“, kritisierte Zenker diese Richtersicht. Merkmal von Drogensucht sei doch genau, dass die Süchtigen nur sehr begrenzt einsichtsfähig seien. Insofern kann Zenker die Richter nicht verstehen, wenn diese schreiben: „Für das eventuelle Scheitern eines solchen (Entzugs-, d.Red.) Vorhabens trägt er sein eigenes Lebensrisiko“. Erschwerend komme die HIV-Infektion Iskender C.‘s hinzu, die als akute Immunschwäche in Stresssituationen durchbrechen könne – und dann in der Türkei nicht ausreichend behandelt würde. Für eine Privatbehandlung aber fehle der Familie das Geld.

Der Leiter des Sozialmedizinischen Dienstes, Thomas Hilbert, weiß, dass Iskender C. mit seinem Schicksal nicht alleine ist. Die Rechtssprechung in Deutschland allerdings falle unterschiedlich aus. Sie beziehe sich auf den Einzelfall, beobachtet Hilbert. Deshalb gebe es seit Jahren unterschiedliche Urteile, die jeweils die medizinische Versorgung im vermeintlichen Heimatland berücksichtige. Beziffern lasse sich die Zahl Betroffener allerdings nicht. „Aids-Beratungsstellen erfassen keine Namen. Sie arbeiten anonym“, erklärt Hilbert. Eva Rhode

*Name ist der Redaktion bekannt