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Archiv-Artikel

Zwischen den Kontinenten

LAMPEDUSA Weil immer mehr afrikanische Migranten auf die Insel kommen, befürchten die Bewohner, dass die Touristen wegbleiben

Sizilien ist etwa 200, das tunesische Sfax nur etwa 100 Kilometer entfernt

VON HELMUT LUTHER

Lampedusa ist karg und rau. Eine natürliche Schönheit, deren herber Charme vielen erst auf den zweiten Blick auffällt. Es gibt hier kaum etwas Grünes. Wie ein keilförmiger, verwitterter Findling ragt das schon im Frühling ausgedörrte Eiland aus dem blau geriffelten Meer empor. Während der Sommermonate sind hier 50 Grad im spärlichen Schatten keine Seltenheit. Wenn der afrikanische Scirocco mit Sturmgewalt über die aufgewühlte See jagt, legt sich der Wüstensand auf sämtliche Kleidungsstücke, die man zum Trocknen vor die Fenster gehängt hat.

Bei heftigem Wind gibt es keine Fährverbindung nach Sizilien. Ihren mühsam erbeuteten Fang, der sonst auf das italienische Festland verschifft wird, müssen die hiesigen Fischer dann ins Meer zurückkippen. Manchmal geht das tagelang so, dass Lampedusas Nabelschnur zur Außenwelt abgeschnitten ist – was man bedenken sollte, bevor man sich zu einem Kurzbesuch auf dem nur 10 Kilometer langen, höchstens 2 Kilometer breiten Eiland entschließt.

In den Gassen des 5.000-Einwohner-Städtchens – dem einzigen bewohnten Ort, der so heißt wie die Insel – ist es laut und eng. Schwarz gekleidete Frauen stapfen mit schweren Einkaufstüten im Arm über den Corso Roma. Gegenüber dem Gemeindehaus, einem der ältesten Gebäude von Lampedusa, sitzen zahnlose Greise auf Holzbänken und blicken versonnen den vorbeistöckelnden Signoras nach. Beinahe jeder Bewohner von Lampedusa hat afrikanisches Blut in den Adern. Geologisch gehört das Eiland ohnehin zum schwarzen Kontinent. Nach Rom, der Landeshauptstadt, ist es von hier eine kleine Weltreise. Sizilien ist etwa 200, das tunesische Sfax nur etwa 100 Kilometer entfernt. Viele Jahrhunderte lang betrieben die Lampedusani Fischfang vor der tunesischen Küste.

Doch seit einiger Zeit erfolgt der Schiffsverkehr meist in umgekehrter Richtung. Im vergangenen Jahr zählte man auf Lampedusa 31.000 Bootsflüchtlinge – das geschätzte Drittel, das unterwegs irgendwo im Mittelmeer ertrunken ist, nicht dazu gerechnet. Die Migranten stammen aus allen Ländern Nordafrikas. Als Europas südlichster Flecken im Mittelmeer bildet die Insel für die Flüchtlinge eine Brücke ins erträumte Wohlstandsparadies. Während der warmen Jahreszeit, wenn das Meer voraussichtlich ruhig bleibt, stranden jetzt wieder Tag für Tag Hunderte an der flachen Südküste. Weil die Migranten gleich in ein gut verstecktes Auffanglager im Inselinneren gebracht werden, bemerkten die Feriengäste bislang kaum etwas von den Dramen. Wegen der Touristen kam den Insulanern diese Praxis nicht ungelegen. Jährlich reisen etwa 150.000 Urlauber nach Lampedusa, hauptsächlich Norditaliener, die von den türkisfarbenen Buchten und den schon im April angenehmen Wassertemperaturen angelockt werden. Da aber große Inselteile unter Naturschutz stehen, an einigen Stränden die Unechte Karettschildkröte ihre Eier ablegt, seltene Vögel und sogar Wale vorbeischauen, finden zunehmend auch ausländische Naturfreunde hierher, um sich mit Wanderstiefeln und Feldstecher auf Erkundungstour zu machen.

Jetzt allerdings befürchten die Einheimischen, dass Lampedusas Tourismuskarriere schnell wieder zu Ende sein könnte. Wenn es nach dem Willen von Ministerpräsident Berlusconi geht, wird auf der Insel ein neues, noch größeres Auffanglager errichtet. Dort sollen die Flüchtlinge bis zu ihrer endgültigen Abschiebung interniert bleiben – nicht wie bisher aufs Festland gebracht werden, wo sie ohne Aufenthaltsgenehmigung als „Clandestini“ so bald wie möglich untertauchen. Als die Regierungspläne Anfang dieses Jahres bekannt wurden, gab es im Auffanglager eine Revolte. Die aufgebrachten Insulaner traten wochenlang geschlossen zu Protestkundgebungen an. Nun schwant ihnen, dass die Touristen ausbleiben könnten. Denn nun hilft kein Wegsehen mehr: Die Bilder vom überfüllten Migrantenlager, den aufmüpfigen Einheimischen, kennt jeder potenzielle Besucher.

„Wer will schon auf einer Flüchtlingsinsel Urlaub machen?“, findet zum Beispiel der Zimmervermieter Carmelo Scozzari. Der 56-Jährige weiß, wo die vom Aussterben bedrohten Tiere ihre Rast- und Brutplätze haben. Neulich, erzählt Carmelo, habe er ein paar Engländer zur Vogelbeobachtung auf die windumtoste Punta Parise hinaus begleitet. „Es wehte der Grecale, ein starker Wind aus Südost. Zuerst erblickten wir nur die hellen Klippen, dahinter die schreienden Möwen und das tiefblaue Meer. Aber plötzlich tauchten vor uns Hunderte von Wachteln auf. So viele der immer selteneren Vögel habe ich noch nie gesehen.“ Andererseits, überlegt Carmelo Scozzari, sei Lampedusa immer schon ein Stützpunkt für alle möglichen Tiere und Menschen gewesen: Die Piraten fanden hier Unterschlupf, die Kreuzfahrer, die Türken, die Kaufleute und die entflohenen Sklaven. Und heute machten hier eben die Zugvögel Halt, die Clandestini und die Urlauber. „Warum“, sagt Carmelo Scozzari, „sollte sich daran etwas ändern?