: Die Jahrtausendreform
VON RALPH BOLLMANN
Ein Glück, dass die meisten Politiker so wenig von Geschichte verstehen. Anders lässt sich der Optimismus kaum verstehen, mit dem sich die 32 Mitglieder der „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ heute zu ihrer letzten Sitzung treffen. Ihr Auftrag lautet, „die Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern“ sowie „die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern“. Sehr witzig: An einer solchen Föderalismusreform haben sich im vergangenen Jahrtausend schon viele versucht. Wer auch immer Deutschland beherrschte, schon immer musste er sich mit renitenten Provinzfürsten herumschlagen. Schon immer waren die Verfahren kompliziert, mit denen die Interessen der zahlreichen Einzelstaaten kunstvoll austariert wurden – ob man sich im Heiligen Römischen Reich um die Sitzordnung im Kollegium der Kurfürsten stritt oder heute um die protokollarische Rangfolge der Ministerpräsidenten im Bundesrat. Ein Blick auf sechs vergebliche Reformversuche:
1356
Die Lage: Eigentlich war im Heiligen Römischen Reich (800–1806) alles so ungefähr wie heute in der Bundesrepublik. Die so genannte „Macht“ des Kaisers war kaum weniger beschränkt als die von Kanzler Gerhard Schröder. Muss sich der jetzige Regierungschef oft genug den 16 Ministerpräsidenten beugen, so hatte der Monarch unter den renitenten Reichsfürsten zu leiden. Schlimmer noch: Während der Bundesrat wenigstens bei der Kanzlerwahl außen vor bleibt, mussten sich die Römischen Kaiser von den Provinzpotentaten sogar wählen lassen – und deren Blockademacht in einer „Wahlkapitulation“ bestätigen. Lange Zeit war das Verfahren nicht mal verbindlich festgeschrieben – weshalb es durchaus vorkam, dass verschiedene Fürsten ihre jeweils eigenen Kaiser und Gegenkaiser wählten.
Die Reform: Auf den beiden Reichstagen des Jahres 1356 ließ der aus Böhmen stammende Kaiser Karl IV. die Goldene Bulle verabschieden. Von den mehreren hundert Reichsständen durften fortan nur noch die sieben Kurfürsten an der Kaiserwahl teilnehmen, und sie mussten nicht mehr einstimmig entscheiden. Kam innerhalb von 30 Tagen keine Mehrheit zustande, sollten sie „forthin nur Brot und Wasser genießen“, bis ein neuer Herrscher gewählt war.
Die Folgen: keine. Wie alle späteren Reichsgrundgesetze dient die „Goldene Bulle“ zwar der Befriedung der renitenten Landesfürsten, eine Stärkung der Zentralgewalt war damit freilich nicht verbunden. Im Gegenteil, durch den Machtgewinn der Kurfürsten schwächte die Föderalismusreform von 1356 die Macht des Kaisers weiter.
1648
Die Lage: Die Selbstherrlichkeit der deutschen Duodezfürsten hatte ihren traurigen Höhepunkt erreicht. Anders als der freche Niedersachse Christian Wulff oder der vorlaute Saarländer Peter Müller fielen die Machthaber der Einzelstaaten nicht nur mit Verbalattacken übereinander her. Sie ließen die Waffen sprechen und schreckten nicht davor zurück, sich mit Mächten außerhalb des Reichs zu verbünden. 30 Jahre Krieg waren weitaus schlimmer als heutzutage eine durchwachte Nacht im Vermittlungsausschuss. Der Reformbedarf war für niemanden zu übersehen.
Die Reform: Nach zähen Verhandlungen einigten sich die Länderchefs 1648 in Münster und Osnabrück auf den Westfälischen Frieden. In Religionsfragen, bis heute eines der wichtigsten Konfliktfelder zwischen den Einzelstaaten, wurde der Status quo festgeschrieben. Allerdings waren die Untertanen fortan nicht mehr verpflichtet, einem etwaigen Religionswechsel des Landesherrn zu folgen.
Die Folgen: keine. Der Friedensvertrag beendete zwar den Dreißigjährigen Krieg, schrieb aber die Zersplitterung des Reichs in hunderte von praktisch souveränen Einzelstaaten fest.
1802
Die Lage: Napoleon war mit seiner Armee ins Reichsgebiet eingedrungen und hatte die linksrheinischen Territorien annektiert. Die Landesfürsten reagierten nicht anders als die Ministerpräsidenten der heutigen Bundesrepublik: Wenn man ihnen etwas wegnehmen will, rufen sie nach Kompensation.
Die Reform: Die geistlichen wie auch die kleineren weltlichen Fürstentümer wurden mit dem Reichsdeputationshauptschluss aufgelöst und den großen Einzelstaaten zugeschlagen. Am meisten profitierte Bayern, das zu seiner heutigen Größe anwuchs.
Die Folgen: keine. Zwar gab es einen Gesamtstaat fortan nicht mal mehr auf dem Papier, aber in der Praxis änderte das nur wenig. Schließlich hatten die Einzelstaaten schon zuvor ihre eigene Diplomatie betrieben – nicht anders als heute Edmund Stoiber in seinem Brüsseler „Neuwahnstein“.
1871
Die Lage: Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck hatte erkannt, dass die Selbstherrlichkeit der deutschen Provinzfürsten in der Bevölkerung nicht mehr unbegrenzt auf Gegenliebe stieß. Schon 1848 waren die Revolutionäre auf die Straße gegangen, um die Zersplitterung Deutschlands durch eine Bewegung von unten zu beenden.
Die Reform: Preußen annektierte Hannover, Hessen-Kassel, Nassau, Frankfurt und Schleswig-Holstein. Bismarck gründete 1867 den Norddeutschen Bund und schritt 1871 zur Reichsgründung.
Die Folgen: keine. Bismarck verstand es meisterhaft, den Regenten selbst in Schaumburg oder Greiz zumindest den Anschein weitgehender Souveränität zu belassen. Das höchste Organ des neuen Gesamtstaats war keineswegs der demokratisch gewählte Reichstag, sondern der Bundesrat – also die Versammlung der „verbündeten Fürsten“, wie es damals hieß.
1933
Die Lage: Wie allen gesamtdeutschen Machthabern zuvor erschien der Föderalismus auch den Nationalsozialisten als ein ungeliebtes Hindernis. Bis zur Machtübernahme im Reich konnten sie nur in wenigen Ländern eine Regierungsbeteiligung erreichen.
Die Reform: Die Nazis taten, was der konservative Reichskanzler Franz von Papen schon im Jahr zuvor mit dem größten Einzelstaat Preußen im berüchtigten „Preußenschlag“ vorgemacht hatte: Sie setzten die demokratisch gewählten Landesregierungen im März 1933 kurzerhand ab und erließen das „Vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“. Ein Jahr später wurden die Landesparlamente gänzlich abgeschafft.
Die Folgen: keine. Zumindest nicht langfristig. Dass der Föderalismus von den Nazis abgeschafft wurde, machte ihn nach 1945 unantastbar. Schon der leiseste Anschein von Zentralismus galt in Deutschland fortan als erster Schritt auf dem Weg in die Diktatur – anders als etwa im zentralistischen Nachbarland Frankreich.
1947
Die Lage: Weil die meisten Amerikaner von Europa wenig verstehen, hielten sie den zuletzt von einer SPD-Regierung geführten Staat Preußen für den „Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“, der einer „Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker“ im Wege stehe.
Die Reform: Der Alliierte Kontrollrat erließ im Februar 1947 ein Gesetz zur Auflösung des Staates Preußen, der bereits 1945 in mehrere Besatzungszonen zerfallen war.
Die Folgen: keine. Die Rolle Preußens als größter Einzelstaat wurde von Nordrhein-Westfalen übernommen, das immerhin ein knappes Drittel der westdeutschen Bevölkerung umfasste. Über deutsche Politik wurde fortan nicht mehr in Berlin und München entschieden, sondern in Düsseldorf und München. Die Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 war nur ein peripheres Ereignis: Sie beschnitt die Macht der Landesfürsten so unwesentlich wie die Gründung des Bismarckreichs 1871.