: Die sauberste Stadt der Welt
Signale aus Singapur: Diese Gesellschaft kennt keinen zivilen Ungehorsam. Man sollte Kurse für Vandalismus anbieten – Sprayen für Anfänger, Sprengen für Fortgeschrittene
Es ist nicht besonders interessant, darüber zu schreiben, was es in Singapurs Alltag zu sehen gibt: Bürgersteige, auf denen man frühstücken könnte, geleckte Fassaden, schöne, neue, geplante Welt – und aus. Vielfältiger wird es erst, wenn man darüber nachdenkt, was alles fehlt. Das Erste, das allen zu Singapur einfällt, auch wenn sie sich sonst noch kaum mit dieser Stadt befasst haben: Die horrenden Strafen, die beim Ausspucken eines Kaugummis drohen. Wie so oft ist auch dieses Klischee wahr. Es gibt keine Graffiti, nirgends. Keine Kippen, keine anderen weggeworfenen Abfälle. An keinem Laternenmast kleben Flyer, kein Bauzaun ist mit bunten Plakaten verziert. Zumindest im Zentrum, dort, wo man als Tourist unterwegs ist, gibt es keine Brachflächen, Ruinen oder andere scheinbar nutzlose Räume. Auch keine umfunktionierten: Ehemalige Kinos, die wie in Los Angeles zu Markthallen wurden oder Revuetheater, die wie in Detroit als Parkhäuser dienen, findet man in Singapur keine.
Hier gibt es keine Not, die erfinderisch macht – niemand käme auf die Idee, im Rosengarten Radieschen zu züchten oder unter die Müllsammler und Ausschlachter zu gehen – ein Beruf, mit dem sich sonst überall in Asien und nicht nur dort sehr viele über Wasser halten. Und weil in Singapur fast alle als Angestellte mit geregelten Löhnen und Arbeitszeiten ihre Brötchen verdienen, gibt es auch keine Nudelbuden, keine fahrbaren Suppenküchen, keine mobilen Obstverkäufer, eben keine Chance, das Schönste zu tun, was man sonst in ganz Asien zu jeder Tages- und Nachtzeit tun kann: auf der Straße essen. In Singapur begibt man sich zur Mittagspause gepflegt vom Officepark zur Konsumzone – in einen der zahlreichen klimatisierten Foodcourts in den Einkaufszentren – und lässt sich dort von freundlichen Kellnerinnen in gebügelten Schürzchen kulinarische Besonderheiten aus Korea, Japan, China, Indonesien oder Thailand auftischen.
Singapurs Regierung ist autoritär, seine Gesellschaft kennt keinen zivilen Ungehorsam. Ein befreundeter Maler, der in Singapur aufgewachsen ist, erzählt uns beim abendlichen Bier: Auch er spuckt manchmal Kaugummis aus. Beim ersten Mal gab es eine Geldstrafe, beim zweiten Mal zwei Stunden sozialen Dienst. Wir wollen wissen, was er tun musste. „Straße fegen“, grinst er. „Und? Fühlte sich das blöd an?“ – „Iwo“, sagt er, „die Leute waren sehr verständnisvoll, und anschließend wurden Kaltgetränke ausgeschenkt.“
Normalerweise interessiert sich der Maler kaum für Aktionskunst – aber an diesem Abend denken wir uns etwas aus. Wie wäre es, eine Galerie anzumieten und darin mal keine Kunst auszustellen, sondern einen Workshop für Vandalismus anzubieten? Man könnte unterschiedliche Kurse anbieten: Sprayen für Anfänger, Sprengen für Fortgeschrittene, Abfackeln für Profis.
Der Maler erzählt, dass es in Singapur Stadtviertel gibt, die auf keinem Stadtplan verzeichnet sind. Ganz normale Wohnviertel. Hier ließen sich vielleicht sogar noch leer stehende Wohnungen finden, in denen man mit den Schülern Aneignung qua Annexion üben könnte. Man würde ein paar Löcher in die Wände sägen und so tun, als sei man eine von diesen Drogengangs in Amerika, die sich ganze Häuserblocks unter den Nagel reißen und zu bienenstockartigen Unterschlüpfen umbauen.
Denkbar, dass die Kulturbehörden der Stadt für ein solches Projekt Geld geben würden. Schließlich gilt inzwischen als gesichert, dass homöopathisch dosierter Vandalismus das Gemeinwesen stärkt und in vielen westlichen Metropolen vom City-Marketing sogar gewünscht wird: Das Verwegene ist manchmal attraktiver als saubere Straßen. SUSANNE MESSMER