Keine Angst vor Gorbatschow

Ein großer Tag für die Hildegard-Wegscheider-Schule: Michail Gorbatschow sprach dort über Glasnost, Perestroika und das Ende des Kalten Krieges

von WALTRAUD SCHWAB

„Gorbatschow was here“, brüllt ein groß gewachsener junger Mann vor der Hildegard-Wegscheider-Schule in sein Handy. Fehlt noch, dass er es als nächstes in die Rinde des Baumes vor der stattlichen Schule im Grunewald ritzt. In seiner Euphorie aber wird er von einer Passantin gestört, die ihn fragt, wer Wegscheider, die Namensgeberin des Gymnasiums, war, deren Name groß auf der Front des Gebäudes prangt. „Ja, so die erste Frau ähm, die erste Frau, die, ähm, tut mir leid, weiß ich jetzt nicht mehr, weiß nur wer Gorbatschow ist.“ – „Wer ist Gorbatschow?“ – „So’n Politiker vom Kalten Krieg.“

Tatsächlich, der junge Mann hat die Wahrheit gesagt: Gorbatschow war gestern an seiner Schule, um einen Vortrag über den Kalten Krieg zu halten. Die Mutter eines Schülers hat Kontakt zum Diskussionsforum „Petersburger Dialog“, das den deutsch-russischen Austausch fördert und zu dem Gorbatschow gehört. Ihr ist die Einladung des Ex-Regierungschefs der UdSSR an die Schule zu verdanken. Die inhaltliche Gestaltung aber lag in den Händen der Schülerinnen und Schüler des Leistungskurses Politische Weltkunde. Was „Kalter Krieg“, was „Glasnost“ und „Perestroika“ ist, haben sie im Vorfeld im Unterricht durchgekaut. Jetzt kommen ihnen die Wörter leicht über die Lippen.

In der voll besetzten Aula der renommierten Schule, von der böse Zungen behaupten, es sei eine, in der es schwer sei, ein leichtes Abitur zu bekommen, hielt der 73-Jährige einen leidenschaftlichen Vortrag, in dem er für die Jugendlichen noch einmal skizzierte, warum es unabdingbar war, dass das Wettrüsten zwischen der Nato und dem Warschauer Pakt beendet werde. Es setzte sich die Einsicht durch, dass der Atomkrieg für keine Seite zu gewinnen ist. Die Kosten für den Militärhaushalt in der Sowjetunion untergruben das zivile Leben. Es fehlte an Mitteln für die Versorgung der Bevölkerung. „Die Welt war gefährlich Mitte der 80er-Jahre“, sagt Gorbatschow, weil es Waffen gefährlichster Art im Überfluss gab. Für die Jugendlichen aber ist diese Zeit weit weg. Als Gorbatschow fragt, wer hier denn schon älter als 20 Jahre sei, gehen nur vereinzelt Finger in die Höhe.

Die Katastrophe von Tschernobyl 1986, ein Jahr nachdem Gorbatschow an die Macht kam, macht die Zerstörungskraft von Radioaktivität deutlich. Eine einzige S-18-Rakete aber hätte das hundertfache Potenzial der Havarie des Kernreaktors. Für die Schüler und Schülerinnen, denen der Politiker die Situation nahe zu bringen sucht, bleibt aber auch dieser Bericht abstrakt. Damals waren die meisten von ihnen Säuglinge. Einige ihrer Mütter mögen verzweifelt versucht haben, herauszufinden, ob ihre Muttermilch radioaktiv belastet sei.

Da die Übersetzung der Rede von Gorbatschow nicht mit seinem Plädoyer Schritt hält, verlieren die meisten SchülerInnen im Laufe des Vortrags ohnehin den Faden, wie sie im Nachhinein berichten. Nur wenn die Rede auf den Fall der Berliner Mauer kommt, gibt es spontanen Beifall. Irgendwie wissen alle im Saal: Das hat was mit ihnen und diesem Mann zu tun.

Gorbatschow versucht dennoch die Spannung zu halten. „Wir sind die, die gehen und Sie sind die, die kommen.“ Er will, dass die Jugendlichen verstehen, dass sie bald für eine Welt Verantwortung übernehmen müssen, in der es nicht zum Besten steht. Zwar wurden im Laufe seiner Amtszeit, die „friedlichen Revolutionen in den östlichen Ländern“ wie er sagt, ermöglicht, die Spaltung Europas für beendet erklärt und auch das Ende des Wettrüstens beschlossen, aber die Chancen wären nicht wirklich genutzt worden. Globalisierungsprozesse hätten bewirkt, dass es ein paar reicher gewordene Reiche und viel mehr Arme gebe. Terrorismus, Ressourcenverbrauch, ökologische Katastrophe – alles versucht der politische Altmeister noch schnell anzusprechen. Vor allem aber sei Europa noch immer gespalten, solange der Kontinent ohne die östlichen Länder gedacht werde.

Für Fragen bleibt am Ende kaum Zeit. Ob ihm, als er die Reformen begann, bewusst war, dass dies zum Zusammenbruch der Sowjetunion führe, war eine. „Natürlich nicht.“ Die UdSSR hätte als Staatenbund weiter existieren können, wenn innere Zersetzungskräfte seine Liberalisierungspolitik nicht gestoppt hätten. Und was mit Tschetschenien sei, fragt ein Schüler? Eine Tragödie sei es, die politisch gelöst werden müsse. Auch wenn das Protokoll danach zum Aufbruch drängt: Für die Schule war es dennoch ein großer Tag.

Und Hildegard Wegscheider, wer war sie nun? Die erste Frau in Preußen, die 1894 Abitur machte.