: Mannschaft ohne Fahne
Auch in der Kriegsgefangenschaft wurde Fußball gespielt. Einblicke in ein unbekanntes Stück Sporthistorie, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der ägyptischen Wüste abgespielt hat
Von Ralf Klee
Fayid, ein ägyptisches Dorf im Jahre 1946. Deutsche Kriegsgefangene hatten mit ihren britischen Bewachern dem Wüstensand am Bittersee eine Grünfläche von etwa 100 x 60 Metern abgetrotzt. Aus dem zähen Rasen sollte eine Oase des Sports werden, denn die ehemaligen Kriegsgegner bauten dort gemeinsam ein kleines Stadion auf. Am Umziehgebäude brachte man den Schriftzug „Olympia“ an, während an der überdachten Sitztribüne, die lediglich den britischen Offizieren vorbehalten war, der Name der Anlage prankte: „Great Bitter Lake Stadium“.
Die Anlage war ein kleines Schmuckstück, mit eigener Laufbahn, umrandet von mehrstufigen Traversen, auf denen die Gefangenen Platz nehmen konnten. Ein besonderer Blickfang waren die lebensgroßen Skulpturen, die Fußballspieler und Leichtathleten darstellten. Geformt wurden sie durch die Hände deutscher Steinmetze, die am Bittersee interniert waren.
Im folgenden Jahr hatten Gefangene und Bewacher Großes vor. Eine deutsche Kriegsgefangenen-Auswahl sollte gegen eine englische Repräsentativmannschaft antreten. Das Spiel, als ein Zeichen der Aussöhnung und des Miteinanders initiiert, wurde im neu gebauten Stadion angesetzt. Und so nominierte der von den Gefangenen gegründete „POW-Sportverband Kanal Süd-Distrikt“, in dem die vielen Lager in der Bittersee-Region zusammengeschlossen waren, elf Spieler.
Als die Auserwählten im Sommer 1947 von einem glatzköpfigen Hamburger angeführt das Stadion betraten, hatten sich etwa 10.000 Gefangene und Angehörige der britischen Armee eingefunden. Der Union-Jack wehte stolz am Fahnenmast, auf eine deutsche Fahne verzichtete man hingegen. Aber welche hätte man schon aufziehen können: Das kaisertreue Schwarz-Weiß-Rot, das viele Sportvereine noch zu Zeiten der Weimarer Republik symbolhaft hissten, war verboten. Ebenso das gleichfarbige Hakenkreuzbanner. Und das demokratische Schwarz-Rot-Gold war noch nicht wieder Bundesfahne, da die deutschen Staaten ja erst 1949 gegründet wurden.
So waren die Kriegsgefangenen äußerlich Personen ohne Farben und Staat, aber doch mit einer Identität. Auch wenn die Kapelle des sudanesischen Wachpersonals, deren Trommler dekorativ mit Leopardenfellen geschmückt waren, vor der Begegnung nur englische Lieder und „God save the Queen“ intonierten.
Nach der musikalischen Ouvertüre bewegte sich der Hamburger Spielführer in den Mittelkreis. Er hieß Ernst Seikowski, war 30 Jahre alt und stammte aus dem Arbeiterquartier Hamburg-Wilhelmsburg. Bekannt war er als linker Verteidiger des HSV geworden. Nach der Seitenwahl kam es zum symbolhaften Handschlag zwischen ihm und dem englischen „Captain“. Als der Schiedsrichter, wegen der hohen Temperaturen in weißem Jersey gewandet, die Begegnung unter dem grenzenlosen Jubel der Zehntausend später wieder abpfiff, hatte die deutsche Auswahl 3:0 gewonnen.
Oft wird der 4. Juli 1954 als eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland genannt, als im Berner Wankdorf-Stadion Herbergers Mannen Fußballweltmeister wurden. Doch auch an jenem Tag im Jahr 1947, im fernen und unbekannten „Great Bitter Lake Stadium“, formte sich nach dem Sieg gegen die mit „Professionals“ gespickte englische Elf ein Stück nationaler Identität. Auch die am Fußball zuvor wenig interessierten Gefangenen fühlten: „Wir sind wieder wer.“
Dieses Gefühl war wichtig, denn das Lagerleben war hart: In Zehn-Mann-Zelten hausen, der persönliche Besitz auf die Strohmatratze reduziert. Dazu kam die eintönige Verpflegung, die oft aus Mehl- oder Nudelsuppen bestand, in denen zwar manchmal auch ein Stück Fleisch schwamm, öfter jedoch bräunliche Käfer, die in den Kochkessel gelangten und nun auf unfreiwillige Art die Proteinzufuhr sicherstellten. Da die Mittagsrationen allgemein wenig Gemüse beinhalteten, verteilten die Briten noch Vitamintabletten als Nahrungssupplement. Dazu kamen die klimatischen Bedingungen: Tagestemperaturen von bis zu vierzig Grad, die untere Luftschicht direkt über den wärmespeichernden Erdboden konnte sich sogar bis auf 80 Grad erhitzen. Die grelle Sonne erstickte am Tag alle Farben, so dass die wenigen Farbtupfer in der Wüste eigentlich nur in der Dämmerung richtig wahrgenommen wurden.
Die physische und psychische Belastung war immens. Ein Lagerpfarrer registrierte bei der „Arbeitskompanie Nr. 2719“, der auch Spielführer Seikowski angehörte, noch zu Beginn des Jahres 1947: „Sechs Kriegsgefangene sind wegen Geisteskrankheit in die zuständige Abteilung des britischen Militärhospitals eingeliefert worden. Es mehren sich vor allem die Fälle, in denen Kriegsgefangene selbst ihrem Leben, das ihnen unerträglich scheint, ein Ende machen.“
So war der Sport fast lebenswichtig. Heinz Schwipps, der mit Seikowski zusammen in der Auswahlmannschaft stand und vor dem Krieg in der Gauligamannschaft von Guts Muts Dresden spielte, erklärt: „Wir hatten aufgrund unserer hohen Spielkultur bei den Briten einen besonders guten Stand. Wir bekamen bessere Verpflegung und durften sogar reisen. So sah ich fast ganz Ägypten. In Alexandria, Port Said und Kairo spielten wir gegen englische und ägyptische Mannschaften – man war berühmt geworden. So hat uns der Fußball über die schwere Zeit hinweggeholfen.“
Das Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten hatte sich im Wüstenklima geändert. Aus Gegnern wurden Schicksalsgenossen, teilweise sogar Freunde. Als die Entlassung von Seikowski bevorstand, kam ein britischer Offizier auf ihn zu und versuchte ihn nach England zu einem Londoner Profiverein zu locken. War es Arsenal, Tottenham oder Chelsea? Man kann Seikowski nicht mehr fragen, denn er ist 1986 gestorben. Fest steht: „Er wäre gern nach England gegangen, doch zu Hause warteten seine Eltern und Geschwister. Das hat den Ausschlag gegeben.“ Das berichtet seine Schwester Emmi Gereke. Und so nahm der Hamburger am 28. August 1948 seinen Seesack und bestieg ein überfülltes Transportschiff in Richtung zerbombte Heimat.