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Archiv-Artikel

Mehr als das Bremer Recht

Nicht nur Ottos Mops kotzt, der Weihnachtsmann auch hin und wieder, während sein Schlitten im Parkverbot vor der Cocktailbar steht: Eine Geschichte über ein Weihnachten, das sich in diesem Jahr in ein Speinachten verwandelte

Der Weihnachtsmann roch nach Alkohol sowie Döner Kebab mit Knoblauchsauce. Aber er lallte nicht und wirkte auch ansonsten noch recht frisch, sodass ich überrascht war, als er mich in der Wilhelmstraße zu halten bat, um seinen Mageninhalt dem nassen Asphalt anzuvertrauen. Das sei „wohl ein Cocktail zu viel“ gewesen, informierte er mich sachlich. Ich hegte allerdings den Verdacht, dass nur die bestialisch stinkende Mischung den Cocktail im Manne zum Molotow werden ließ. Der nächste Übergabetermin war bereits abzusehen.

In der Tat – bald war es so weit: Der unpässliche Schenker ließ mich mittels lustig glucksender Geräusche wissen, dass er ein zweites Mal zu halten begehrte. Dabei zeigte er sich auch noch wählerisch: „Hier noch nicht“, gurgelte es hinter der krampfhaft vor den Mund gehaltenen Hand. Statt vor stoppte ich also erst hinter der Kreuzung und schaltete die Warnblinkanlage ein. Er öffnete die Tür, beugte sich hinaus und verteilte seine Gaben freizügig auf die Leipziger Straße. Über den Standortvorteil dieser Kotzstelle war ich mir nicht recht im Klaren – der Unterschied zur ersten Ecke war allenfalls, dass es hier dunkel war, keine Bushaltestelle gab und nicht zwanzig Leute um uns herumstanden. Trotz seiner exponierten Tätigkeit schien der Weihnachtsmann kein Aufsehen zu lieben.

„Dreimal ist Bremer Recht“, verkündete ich, ohne genau zu wissen, was das überhaupt bedeutete. Er glotzte bloß, wischte sich güldenen Schleim aus dem Mundwinkel und stank. „Meiner Erfahrung nach muss man fast immer dreimal göbeln, und dann ist alles wieder gut“, erläuterte ich. Einmal stand dann ja noch aus, und angesichts des durch das Auto wabernden und auch bei mir große Übelkeit erregenden Aromas fragte ich mich bang, ob es auch als drittes Mal zählen würde, wenn ich seinen beiden Häufchen ein eigenes aus Plätzchen und Milchkaffee hinzufügte.

„Dreimal ist Bremer Recht“, inzwischen weiß ich es, stammt angeblich aus der Zeit Karls des Großen, der den Bremern die Rechte verlieh – Münzrecht, Stadtrecht, Marktrecht –, während andere die Redensart auf den uralten Brauch zurückführen, dass der Friese einen ungebetenen Gast erst dann zusammenschlagen und aus der Kate werfen darf, nachdem er ihm die dritte Tasse Tee mit Sahne und braunem Kandis kredenzt hat.

Das dritte Mal ereilte seine Exzellenz am Alexanderplatz. Der Anblick eines Taxis, das warnblinkend auf der mittleren Linksabbiegerspur stand und aus dem sich hinten wie Hilfe suchend ein dicker Heiliger beugte und anatolische Spezialitäten erbrach, vermochte spürbar nicht alle der im letzten Moment ausweichenden Verkehrsteilnehmer zu erfreuen. In einigen der Autos saßen als Weihnachtsmänner verkleidete Betrüger, doch der einzig Wahre bei mir im Fond hatte keine Augen für diese miese Geschäftemacherei, die skrupellose Studenten unter Missbrauch seines guten Namens abzogen. Als wir uns erleichtert wieder in Bewegung setzten, war sein Blick glasig – womöglich dachte er an seinen Rentierschlitten, der jetzt vor einer Kreuzberger Cocktailbar im Parkverbot stand.

Ich hoffte jedenfalls, dass die Sache mit diesem dritten Mal gegessen war, doch an der Schönhauser Allee erfolgte schon die vierte Bescherung. Eine hastige optische Analyse des unerfreulichen Geschenks nährte über die bereits geschilderten Ingredienzen hinaus noch den Verdacht auf Glühwein, Spekulatius und Bratwurst – sofern es sich nicht um erste Vorboten seiner Innereien handelte.

In der Pappelallee kotzte der Weihnachtsmann zum fünften Mal – man konnte sagen, es lief mittlerweile schon flüssiger. Wir waren ein eingespieltes Team geworden: würgen, rechts ranfahren, Tür öffnen, rausreihern – ein runder, perfekt durchchoreografierter Mechanismus. Ich musste an die vielen Häufchen in unserem Rücken denken: Willhelmstraße – Münzrecht; Leipziger Straße – Stadtrecht; Alexanderplatz – Marktrecht. Und danach? Danach nur noch Erbrecht. An der Stahlheimer Ecke Wisbyer stieg der Weihnachtsmann endlich aus. „Frohe Weihnachten“, wünschte er schwach, und es klang fast wie „Speinachten“, denn nun lallte er doch ein wenig. ULI HANNEMANN