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Archiv-Artikel

Mackie Messer gegen Psychosen

Der Hof Sondern bei Wuppertal ist bundesweite Anlaufstelle für psychisch Kranke. Sie werden mit künstlerischen Tätigkeiten therapiert, spielen Theater, machen Musik und produzieren eine Zeitung

Unter Lampenfieber leiden alle: Mitarbeiter und Patienten

AUS WUPPERTALLUTZ DEBUS

Nahe einem Vorort von Wuppertal verbirgt sich hinter bepflanzten Erdwällen eine kleine Siedlung. Diese ähnelt auf den ersten Blick eher einem unbesiegbaren gallischen Dorf als einer Rehabilitationseinrichtung für psychisch kranke Menschen. Normalerweise sehen solche Reha- Einrichtungen klinischer aus. Doch der Hof Sondern ist anders: Neben den vom Sozialversicherungsträger geforderten Maßnahmen zur beruflichen Orientierung der psychisch kranken Erwachsenen sieht der Tagesablauf auch andere Elemente vor. Künstlerisches Engagement verknüpft sich mit psychotherapeutischen Angeboten. Ein junger Mann bearbeitet mit Hammer und Meißel einen Stein. Von weitem hört man das Trommeln der Percussionsgruppe. Abends probt die hauseigene Rockband ihre neuen Stücke. Die „museumsreife“ Offsetdruckmaschine spuckt gerade die monatlich erscheinende Zeitung “Sonder(n)blatt“ aus.

Peter Koll ist seit 12 Jahren dabei. Der gelernte Installateur war Krankenwagenfahrer, Flohmarktorganisator und Biogemüsegroßhändler, bevor er aus Neugier Hof Sondern einen Besuch abstattete. Zufällig wurde gerade eine Stelle frei. So zog er mit seiner Familie in eines der Häuser und bildete für elf psychisch Kranke eine Art Ersatzfamilie. Inzwischen ist er Diplomsozialarbeiter und wohnt außerhalb der Einrichtung. Die enge Verbindung von Privatleben und Dienst war auf Dauer nicht durchzuhalten. Ein anderes Wort hierfür ist „Professionalisierung“. Zu sehr ist er aber nicht auf Distanz gegangen. Mit seinem Akkordeon und musikalischen Talent leitet er ein therapeutisches Musikangebot. Um die Urlaubskasse bei einer Ferienfreizeit aufzubessern, macht er mit einigen Bewohnern Straßenmusik, in der Schweiz, auf der Uferpromenade des Vierwaldstädter Sees. Oder er geht mit vier Bewohnern in die Luft, mit einem Heißluftballon. Mit Menschen, die sich verfolgt fühlen, Stimmen hören, verzweifelt sind, betrachtet er die Welt aus 1.000 Metern Höhe, genießt mit ihnen das sanfte Dahinschweben.

Sein Kollege Michael Fuchs, im Hof Sondern Werkstattleiter der Schreinerei, ist eigentlich Orgelbauer, aber eben auch Regisseur. Mit Siegfried Schmock, einem der Gründer von Hof Sondern, begann 1977 mit der Aufführung der Oberuferer Weihnachtsspiele die Tradition des Theaterspielens in Hof Sondern, die von Fuchs gerne weitergeführt wurde. Als kreativer Werkstattleiter fertigte Fuchs Puppen für Märchenaufführungen an. Und diese begannen mit ihm und einigen Bewohnern von Hof Sondern zu spielen. Inzwischen hat Fuchs etwa 25 Theaterstücke mit lebenden Darstellern auf die Bühne gebracht. Gerhard Hauptmanns „Biberpelz“, Fassbinders „Das Blut am Hals der Katze“ und auch Klassisches wie „Lysistrata“. Vier Stunden dauerte die Aufführung der „Dreigroschenoper“. Peter Koll leistete einen Teil der musikalischen Untermalung mit dem Akkordeon. Dreißig Mimen standen auf der Bühne. Mackie Messer wurde von einem Bewohner gespielt. Nachdem der letzte Vorhang fiel, brach er vor Freude in Tränen aus.

Inzwischen schreiben die Bewohner von Hof Sondern ihre eigenen kleinen Stücke. Bernadette verfasste einen Dialog zwischen einem Patienten und einem Psychologen. „Theater ist mir angenehmer als die Realität. Im Spiel kann ich etwas verändern.“ Das „Was“, das „Wo“ und das „Wer“ ist beim Spielen klar; dass „Wie“ kommt dann von selbst. Fuchs hat sich vom Schwarzen Theater Prag inspirieren lassen. Für die nächste Aufführung kauft er sich etliche Schwarzlichtscheinwerfer. Das Magische, das dem Leben inne wohnt, das dem „Irrenden“ inne wohnt, möchte er inszenieren. Mit ihrem Lampenfieber sind die Mitspielenden alle gleich. Mitarbeiter, Praktikanten und Psychiatriepatienten.

Hof Sondern war viele Jahre bundesweite Anlaufstelle für psychisch erkrankte Menschen, die für ihre Rehabilitation einen anthroposophischen Rahmen suchten. Inzwischen übernimmt Hof Sondern die psychiatrische Nachsorge für die Region. Die Ideale sind in der Realität angekommen. Bezugnehmend auf die organisch unrechtwinklige Bauweise der Wohnhäuser spricht Fuchs in breitem Westfälisch von der „Psychiatrie mit ‚abben‘ Ecken“.