WIEDERGELESEN: „DIE REISE“ VON BERNWARD VESPER : Das dicke Ende
Triangel ist ein kleiner Ort in der Südheide und man könnte ihn in einem Atemzug mit dem französischen Combray nennen. Beides Wiegen großer Autoren, beides Fluchtpunkte unvergleichlich literarischer Erinnerungen.
Bei Proust steht der Ort als Chiffre für die Überzeugung, dass es Paradiese einzig als verlorene gibt, die wie die Kindheit momenthaft rekonstruierbar sind. Triangel dagegen ist für Bernward Vesper ein anderer Name für Hölle: für die Hölle der Kindheit Pars pro Toto für die Hölle aller patriarchalisch-autoritären Klassengesellschaften. Und das Paradies: dauerhaft erreichbar, wenn man der Kindheit und den Verhältnissen entkäme. Sein Wälzer „Die Reise“, ist beides, Versuch und Protokoll dieses Ausbruchs zugleich.
Und während Combray ein fiktiver Name für Illiers ist und erst seit kurzem in memoriam Marcel Proust offiziell als Dorfname figuriert, war der Ortsname Triangel schon immer deckungsgleich mit der Wirklichkeit. Denn auch das ist „Die Reise“: der Versuch, mit dem allgemeinen Verblendungszusammenhang noch die Kunst hinter sich zu lassen, die Romanform zu sprengen und der Realität selbst das Wort zu geben. „Die Ähnlichkeit von Personen dieses Buches mit lebenden Personen beruht nicht auf Zufall, sondern wurde in etwa zweijährigem Arbeitsprozess hergestellt“, schickte Vesper der Schrift voran.
Für das Fragment gebliebene Buch – der Autor setzte 1972 im Alter von 32 Jahren seinem Leben ein Ende – hatte dieser Bekenntnischarakter weitreichende Folgen: Als es 1977, mitten im Deutschen Herbst erschien, verstand man es als Schlaglicht, gerichtet auf eine Generation. Ei, da hatte man es, das wilde Treiben der 68er, Sex, Drogen und Politik. Und wie es kippte, in den bewaffneten Kampf.
Das alles aus erster Hand, und Vesper kannte wirklich alle: Ensslin, seine Verlobte und Mutter seines Sohns Felix, Meinhof, mit der er in Rom war, Langhans und Anhang, Teufel und Dutschke aus dem SDS, dessen Linie er als Herausgeber der Voltaire-Flugschriften mitprägte.
Wobei der entscheidende Name hier noch fehlt, um den „Die Reise“ kreist, und der das Buch so sehr zum Generationsbild prädestinierte: der Name des Vaters. Will Vesper. Bauer. Hausdichter der Nazis. Hundeliebhaber, der die Hofkatzen als „Juden unter den Tieren“ eliminiert. Holocaustleugner. Der Vater ist so präsent, dass noch die paar Erinnerungen Bernward Vespers ans Gut Triangel, die poetische Schönheit transportieren, ins Schreckliche umschlagen.
Aber „Die Reise“ ist mehr als nur der „Nachlass einer ganzen Generation“, wie damals ein Kritiker schrieb. Mit seiner Passion des Realen, seinem Verzicht aufs geschlossene Werk zugunsten des Fragmentarischen und Widersprüchlichen, seiner schieren Fülle, in der Zeitungsnachrichten, Notizen, Aperçus, detailgetreue literarische Beschreibungen, poetologische, philosophische, soziologische Überlegungen ungefügt nebeneinander stehen, kann man das Buch getrost als Kulminationspunkt einer ganzen Epoche, der Moderne betrachten.
Möglich, dass Vesper den Freitod wählte, weil er diese Epoche durchmessen, aber nicht überschreiten konnte. Auf den letzten Seiten der „Reise“, die auch ein Drogentrip ist, heißt es, der Mensch könne mit LSD erkennen, „dass er der kapitalistischen Wirklichkeit nicht entfliehen kann, die seine Haut durchdringt und die Züge seines Ichs für immer festgelegt hat, dass jede weitere Befreiung nur noch das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung, die Folge des Sturzes der herrschenden Klasse sein kann“. Der schien Vesper 1972, anders als die Schlaftabletten auf dem Nachtisch, in unerreichbarer Ferne. MAXIMILIAN PROBST
1977, März-Verlag, bei zvab.com