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Archiv-Artikel

Im Wettbewerb mit sich selbst

Die Pinneberger Schülerschule hat die Gier nach guten Noten abgeschafft. Maßstab ist nicht die Konkurrenz zu Mitschülern, sondern die eigene Entwicklung. Wie eine Schule ohne Noten, ohne verbeamtete Lehrer, ohne Stundenplan, ohne Klingelzeichen funktionieren kann – mit allen Talenten

Ein Lehrer: „Wir müssen Situationen schaffen, in der Kinder ihre Stärken erleben, denn die hat jedes Kind“ Juliane aus der Neunten: „Es wäre manchmal besser, wenn man so richtig sauer sein könnte auf einen Pauker“

AUS PINNEBERG SANDRA WILSDORF

Marie-Laura wundert sich: „Es gibt hier Mädchen, die mir Hallo und Tschüs sagen“. Das hat sie lange nicht erlebt. An ihrer alten Schule war Marie-Laura nur „die Schlampe“, weil sie sich mit Jungens besser versteht als mit Mädchen. Sie hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, ist schon zweimal sitzen geblieben und hatte Angst vor jedem Morgen. Seit drei Tagen probiert sie nun eine neue Schule aus – die Schülerschule in Pinneberg, nordwestlich von Hamburg. Nun müssen sich Marie-Laura und das Kollegium für oder gegen einen Schulwechsel entscheiden.

Die Schülerschule ist eine Schule für alle. Von der ersten bis zur zehnten Klasse werden hier behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet. Es gibt keine Sortierung in Haupt-, Realschule oder Gymnasium. Kinder, so die Philosophie, lernen in heterogenen Gruppen besser als in homogenen. Deswegen wird klassen- und fächerübergreifend unterrichtet. Weil das nicht dem gängigen deutschen Modell entspricht, ist die Schülerschule eine anerkannte Privatschule wider Willen.

Klasse 9 hat Projektunterricht. Die Schüler sitzen in Zweier- und Dreiergruppen, sie beugen sich über ihre Hefte oder gehen in die Bibliothek. Sie lesen nach und notieren, wer Aristoteles war, was eigentlich eine Fuge ist oder was genau in Pearl Harbor passierte. Normalfall an der Schülerschule. Die Schüler arbeiten, obwohl kein Lehrer dafür sorgt. Ingrid und Olaf, die Lehrer, sind hier nur Lernbegleiter. Still ist es von alleine.

„Wir arbeiten doch an Dingen, die uns interessieren“, sagt Christina. Aristoteles? Dreiklang? – alles selbst gewählte Themen. Die Neuntklässler haben sich Allgemeinbildung als Projektthema gewählt. Nicht immer können die Schüler ihre Stoffe selbst aussuchen. Doch das Prinzip ist immer das gleiche: Allein oder in Gruppen Inhalte erarbeiten, Ergebnisse präsentieren und manchmal in Tests nachweisen. Referate gibt's hier schon in der Grundschule.

Jedes Klassenzimmer sieht anders aus. Die Wände mal orange, ocker, blau oder gelb. Das ehemalige Gutshaus in Pinneberg hatte einst einer jüdischen Familie als Sommerresidenz gedient, bevor es die Nazis okkupierten, um Seidenraupenzucht für die Herstellung von Fallschirmseide zu betreiben. In der Beletage haben die Klassenräume Erker, manche Balkone, die sich die Schüler eigenständig herrichten.

Die Siebtklässler haben ihre Lernwege nach Paul Klee gemalt. Vom Anfang bis jetzt hat einer viele schwarze Blockstreifen in seinen Weg gemalt, zum Ende werden sie ganz bunt. Ein Weg endet mit einem Peace-Zeichen, einer beginnt farblos, wird dann schwarz und mündet in kräftigen Farben: Reflexionen über den eigenen Fortschritt sind für Schülerschulen-Schüler an der Tagesordnung.

So wie es keinen Pausengong gibt, machen nie alle Schüler einer Klasse das Gleiche. Wer keine Lust auf die gestellte Aufgabe hat, erledigt sie eben zu Hause und in der Schule eine andere. Dafür arbeiten manche einfach durch in der Pause. Wer schneller ist, bekommt neue Aufträge. Dass jeder sein eigenes Tempo hat, ist an dieser Schule kein Grund, etwa – wie selbst in Gesamtschulen üblich – in A-, B- oder C-Kurse zu sortieren. Es gibt Jugendliche, die sind in der 9. Klasse weiter als Gymnasiasten in der 11., andere steuern auf den Hauptschulabschluss zu.

„Früher haben viele Leute geglaubt, wir seien eine Sonderschule“, erzählt Schulleiterin Dorle Roleff-Scholz. Nach dem internationalen Schulvergleich Pisa begann der Run auf Pinnebergs Schülerschule: Auf 20 Plätze kommen seitdem mindestens 50 Bewerbungen. Überhaupt: Pisa. Nicht, dass die Schulleiterin etwas gegen den Abo-Sieger Finnland hätte. Aber es wurmt sie schon, dass diese ganzen Bürgermeister-, und Ministerdelegationen immer nach Skandinavien fahren – vorbei an der Schülerschule, die das finnische Prinzip seit langem praktiziert.

„Wir haben ein gutes Verhältnis zu den Lehrern, aber wir können ihnen auch nicht auf der Nase rumtanzen.“ Eliza spricht über das, was an Reformschulen von außen so oft misstrauisch beäugt wird: Die Disziplin. Manch ein Schüler würde die Lehrer lieber siezen. Und Juliane findet, „es wäre manchmal besser, wenn man so richtig sauer sein könnte auf die Pauker“. Was aber offenbar nicht leicht fällt. „Ich habe in der siebten Klasse in Mathe nichts hingekriegt“, erzählt Niklas, „an einer anderen Schule hätte ich den Anschluss verloren.“ Hier ging das nicht. Die Lehrer ließen Niklas mit seinen Problemen nicht allein. Sie fragten nach, sie beschäftigten sich mit ihm und suchten nach Lösungen. Irgendwie geht das auch gar nicht anders. Abschieben, das gibt es an der Schülerschule nicht. Niemand kann sitzen bleiben – Noten gibt es erst ab Klasse 9.

Zensuren sind trotzdem immer wieder Anlass für Streit. Anna findet: „Ob man gut ist oder schlecht – Noten sind da klarer.“ Hannes hingegen sagt: „Eine Weile war ich auch für Noten, man will sich doch vergleichen. Aber eigentlich ist es doch wichtiger, sich zu verbessern, und das geht mit Berichten und Halbjahresgesprächen besser als mit Noten. Die sagen dir genauer, was du verbessern musst.“ Derweil erklärt Lena der Klasse die Moosarien, die auf der Fensterbank stehen. Das soll der Versuch sein, ein in sich geschlossenes System aus Erde, Steinen, Moos und Wasser nachzubilden – in einem Marmeladenglas. „In Epoche machen wir gerade Wald“, sagt Lena. Im Epochenunterricht behandeln die Klassen über mehrere Wochen Themen, die zu groß sind, als dass man sie nur drei Stunden pro Woche und aus der Perspektive eines Faches betrachten sollte.

Die Schülerschule in Schleswig-Holstein existiert seit fast 20 Jahren. Ihre Lehrerinnen und Lehrer sind ganz normale staatlich ausgebildete Pädagogen. Und auch wieder nicht normal. Die meisten von ihnen haben sich weiterqualifiziert, in Psychomotorik, Musik oder Legasthenie. Und sie verzichten alle auf einen Teil ihres Gehalts – und das Beamtentum. Sie sind nur angestellt. Das heißt beispielsweise, dass jeder Zusatzjobs für die Schule wie Öffentlichkeitsarbeit oder Computer betreut. Trotzdem: „Burn-out kennen wir hier nicht“, sagt Lehrer Olaf Gatermann, der seit 12 Jahren dabei ist.

Vielleicht, weil niemand Einzelkämpfer ist. Mehr als die Hälfte der Stunden unterrichten die Lehrer im Team, zu zweit oder, wenn eine Klasse sehr heterogen ist, auch zu dritt. Die Pädagogen wissen zu schätzen, was an vielen Schulen Luxus ist: Jeden einzelnen Schüler zu kennen, zu bemerken, wenn er Schwierigkeiten hat, und sich um ihn kümmern zu können. Wenn Schüler besonders stark sind, dann wird auch das gefördert. Wenn das Zusatzpensum sie nicht mehr auslastet, kann ein Jugendlicher in die Rolle des Lehrers schlüpfen – und selbst Kurse für Mitschüler anbieten: Graffiti, Computer-Basteln oder eine Schreibstube, alles schon da gewesen.

Selbstverständlich gibt es auch Konflikte. „Einmal haben wir alle die Klasse verlassen, weil der Lehrer einen Elternabend einberufen wollte zu einem Streit, den wir längst unter uns gelöst hatten“, erzählt Sandra aus der Neunten. Der Elternabend hat denn auch nicht stattgefunden. Es gibt aber auch Schüler, die finden die relative Harmonie „total langweilig“. Anna erzählt: „Wer zum Beispiel dabei erwischt wird, dass er während der Schulzeit das Gelände verlässt, der muss zur Strafe einen Kuchen backen.“ Dabei halte Kuchenbacken ja wirklich keinen von irgendetwas ab. An anderen Schulen gebe es da echte Strafen.

Sanktionen handeln Lehrer- und Schülerschaft an der Schülerschule aus. Wenn die frisch renovierten Toiletten beschmiert sind, dann beauftragen die Lehrer eine Klasse, dafür zu sorgen, dass das nicht mehr vorkommt. „Wir wollen, dass die Schüler Verantwortung übernehmen“, sagt Lehrerin Simone Schumacher.

In der sechsten Klasse hat sich Markus in den Nebenraum zurückgezogen. Der geistig behinderte Junge arbeitet für sich, aber ist nicht allein. Vor ihm liegt das große bunte Bild eines Tante Emma-Ladens samt Waren. Neben ihm ein Kassettenrecorder. Eine Frauenstimme, der Lieferant, weist Ladenbesitzer Markus an, wo er was platzieren soll. Er weiß meist vorher, wo was hingehört. „Das hat unsere alte Lehrerin für Markus aufgenommen“, erklärt Lasse, der sagt, er könne Markus am besten beruhigen. Wenn nach vielen Jahren die Klassenlehrerin wechselt, ist das für alle Kinder ein bisschen traurig, für Markus ist der Trennungsschmerz offenbar besonders groß.

Für heute ist der Unterricht in der Klasse vorbei, es geht zu den Wahlpflichtangeboten. Textiles Werken, Kunst, Olympiade, Naturwissenschaften oder Theater. Michelle muss noch eben den Stundenplan von morgen an die Tafel schreiben: „Mathe, Englisch, Epoche, Epoche, Epoche“ Lena erklärt: „Das ist auch besser für Markus, wenn er weiß, was kommt.“

Früh geht es in der Schülerschule auch um das Leben danach. In Klasse 6 und 7 wird Berufsorientierung eingeführt, in Klasse 7 das Wirtschaftsleben anhand von Scheinfirmen ausprobiert und in Klasse 8 und 9 stehen jeweils drei Wochen Praktikum auf dem Plan. Und wer mit dem Hauptschulabschluss abgeht, der bekommt den nicht einfach so, sondern muss dafür ein Thema seiner Wahl praktisch und theoretisch aus der Sicht verschiedener Fächer erarbeiten und der Schulöffentlichkeit vorstellen – ein Prinzip, welches das schleswig-holsteinische Kultusministerium gerade landesweit eingeführt hat. Jeder darf Fragen stellen, die die Schülerinnen und Schüler fast immer beantworten können. „Wir haben noch nie erlebt, dass jemand das nicht hinbekommen hat“, sagt Dorle Roleff-Scholz. Die meisten gingen gestärkt und mit einem aufgewerteten Abschluss aus ihrer Arbeit hervor.

Etwa 45 Prozent der Schüler verlassen die Schülerschule mit dem Hauptschulabschluss, knapp 40 Prozent eines Jahrgangs beenden sie mit dem Realschulabschluss, mindestens die Hälfte von ihnen geht dann noch weiter. Gut elf Prozent verlassen die Schule ohne Abschluss. Jeder nach seinen Möglichkeiten. Denn, wie Svenja aus der 6. Klasse sagt: „Hier sind alle Kinder zusammen, die es gibt.“

Die Lehrer hier glauben an den Wettbewerb mit sich selbst, der nicht zur Verdrängung, sondern zu einer langfristig tragfähigen Entwicklung der eigenen Person führt. „Wir müssen Situationen schaffen, in der Kinder ihre Stärken erleben, denn die hat jedes Kind“, sagt Andreas Lehmann-Grube, der die Grundschule leitet. Die Leistungsschwächeren müssen lernen, dass es Stärkere gibt, „den Frust können wir ihnen nicht ersparen“. Die Stärkeren müssen lernen, auf die anderen nicht herabzusehen. Ein Lebensthema: Ich bin anders, du auch.