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Archiv-Artikel

„Kinderarmut ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft“, sagt Christoph Butterwegge

Zu wenig Platz für den Geburtstag, kein Geld für Nachhilfe. Kinderarmut ist nicht spektakulär, sondern alltäglich

taz: Herr Butterwegge, wie viel Geld hat ein Kind, das „arm“ ist?

Christoph Butterwegge: Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben. Die EU berechnet Armut danach, ob einem Haushalt weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung stehen. Das Haushaltseinkommen ist als Indikator meines Erachtens jedoch nicht ausreichend, um die Armutssituation von Kindern zu erfassen. Wir haben uns bei unserer Studie daher auf die qualitativen Aspekte der Armut konzentriert, also auf die Lebenslagen der Kinder: wie wohnen sie, welche Bildung genießen sie, wie steht es um ihre Gesundheit, was für Möglichkeiten gibt es im Freizeitbereich? Wenn sich die Defizite häufen, sprechen wir von Armut.

Wie viele „arme“ Kinder gibt es nach Ihrer Definition in Deutschland?

Wir gehen von 2,8 Millionen armen Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren aus, also knapp 20 Prozent aller in der Bundesrepublik lebenden Minderjährigen. Sicherlich wird sich die Situation mit Hartz IV noch verschärfen. Schrittweise, wegen der die Lage bis zur Bundestagswahl 2006 entschärfenden Übergangs- und Kinderzuschläge, wird sich die Zahl armer Kinder auf etwa 3,3 Millionen erhöhen.

Die Bundesregierung geht aber nur von rund 1 Million armen Kindern aus. Liegt das an der unterschiedlichen Definition?

Die Bundesregierung orientiert sich an den Kindern und Jugendlichen, die am 31. 12. 2003 in Sozialhilfehaushalten gelebt haben. Das scheint mir aber kein geeigneter Maßstab zu sein. Auch Kinder in Haushalten, deren Haupteinkommen aus einem prekären Arbeitsverhältnis kommt, sind sozial benachteiligt und weisen häufig Defizite in den einzelnen Lebensbereichen auf.

Wie groß sind die Unterschiede zwischen Ost und West?

Die Unterschiede haben sehr stark mit unterschiedlichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt und differierenden Familienstrukturen zu tun. In Ostdeutschland gibt es prozentual erheblich mehr Alleinerziehende, vor allem Frauen, die mit Armut zu kämpfen haben. Im Westen leben viele arme Kinder in Migrantenfamilien. Aber die Armut in Ost und West gleicht sich insgesamt auf einem höheren Niveau an.

Sie haben Gespräche mit 20 Erfurter und 40 Kölner Kindern zwischen 9 und 11 Jahren geführt und gut 300 Fragebögen ausgewertet. Ist das nicht ein etwas dünne empirische Basis?

Nein, im Vergleich zu anderen Untersuchungen zu Kinderarmut ist das eine breit angelegte Studie. Wir hatten aber auch das Problem, dass uns in vielen Schulen mit der Begründung „Armut gibt es bei uns nicht“ die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Schulleiter, Lehrer, Eltern haben häufig gesagt: „Gehen Sie doch in die Nachbarschule, da werden Sie Armut finden!“ Weil Armut ein Stigma trägt, will niemand etwas damit und erst recht nicht mit den Armen selbst zu tun haben. Man muss sich zum Teil einer Forschungsmimikry unterziehen, indem man erst gar nicht von „Armut“ spricht, sondern von „Einkommenssituation“.

Welche Schwierigkeiten haben „arme“ Kinder, die „reiche“ Kinder nicht haben?

Viele, zum Beispiel mangelnden Wohnraum. Ohne ausreichend Platz kann kein großer Kindergeburtstag gefeiert werden. Das führt womöglich dazu, dass ein Kind zu anderen Geburtstagen nicht eingeladen wird und sich ausgegrenzt fühlt. Oder mangelnder Zugang zu Bildung, etwa im Hinblick auf teuren Nachhilfeunterricht.

Heißt das: Arm bleibt arm?

Es gibt einen Teufelskreis der Armut, wenn auch keinen Automatismus. Kinder aus sozial benachteiligten Familien tragen ein viel höheres Risiko, später selbst arme Kinder zu haben. Aber es gibt natürlich Möglichkeiten, diesen Kreislauf zu unterbrechen, besonders dann, wenn die Bundesregierung – wie schon oft angekündigt – eine politische Offensive gegen Kinderarmut starten würde.

Gibt es auch Probleme, die nur reiche Kinder haben?

Auch Kinder aus wohlhabenden Familien stehen unter Konsumstress. Reichtum macht natürlich nicht zwangsläufig glücklich.

Sie schreiben in Ihrer Studie, dass es „noch nie so viele Haushalte ohne materielle Sorgen und so viele Kinder mit eigenem (Kapital-)Vermögen in der Bundesrepublik“ gab. Ist das nicht ein Fortschritt?

Nicht unbedingt, denn dadurch wächst die soziale Polarisierung. Wir haben eine doppelte Spaltung in Ost/West und oben/unten. Die Tatsache, dass Eltern wegen entsprechender Steuervorteile schon kurz nach der Geburt einen Teil ihres Vermögens an die Kinder verschenken, vertieft die Spaltung. Wenn die Armen ärmer und die Reichen mehr werden, verschärft sich das Problem.

Was haben Kinder eigentlich von mehr Geld? Führt Reichtum bei Kindern zu einer noch stärkeren Kommerzialisierung der Kindheit?

Die Kommerzialisierung der Freizeit nimmt zu. „Mehr Geld für Kinder“ zu propagieren ist daher keine Lösung. Freien Zugang zu Kitas, mehr Krippenplätze auch im Westen und eine flächendeckende Ganztagsschule wären wesentlich besser, als etwa das Kindergeld zu erhöhen. Kindergelderhöhungen werden den Eltern, die Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II bekommen, wieder abgezogen. Stattdessen müsste die soziale Infrastruktur verbessert werden. Kinderarmut in einem so reichen Land ist ein Armutszeugnis für die ganze Gesellschaft.

INTERVIEW: SEBASTIAN SEDLMAYR