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Archiv-Artikel

Die Entscheidung

9. Preis des Schreibwettbewerbs „Ein Wintermärchen“

VON ELISABETH SCHNURRER

Atmete sie noch? Schwer fiel Atiq Nivksinik neben der reglosen Gestalt auf die Knie. Gerade noch hatte sie den Körper an der Kapuze aus dem eiskalten Wasser an Land geschleift. Sie war stark für ihre zwölf Jahre, aber die Anstrengung ließ ihre Arme und Beine zittern. Oder war es die Kälte, die durch die nasse Seehundfellkleidung kroch? Wie hatte das nur geschehen können, hier, so nahe an der Küste? Sie waren zu zehnt mit dem Umiak nordwärts gerudert, Atiq, ihre Mutter Innakatsik, ihr jüngerer Bruder Uvloriak, sechs weitere Frauen und Kinder ihrer Familie und der alte Inukshuk. Normalerweise begleiteten die Männer in ihren Kajaks das offene Transportboot, doch diesmal waren sie am alten Lagerplatz zurückgeblieben, um die nachrückenden Cree aufzuhalten. Die Frauen, Kinder und Alten waren nordwärts geflohen, um bei Verwandten Schutz zu suchen.

Die letzte Nacht war kurz gewesen, die kleine Gruppe war heute vor Morgengrauen aufgebrochen und wollte ihr Ziel Igloolik noch diesen Abend erreichen. Doch kurz nach ihrem Aufbruch war das Walross unter ihnen aufgetaucht, hatte das Umiak in die Höhe genommen und umgekippt. Schon als Atiq ins Meer fiel, wusste sie, dass sie schnell an Land gelangen musste, wenn sie leben wollte. Das winterkalte Wasser lähmt den Körper, die Kleidung wird schwer, und nach nur wenigen Herzschlägen versinkt man einfach und taucht nie wieder auf. Also hatte Atiq um sich geschlagen und dabei mit der rechten Hand etwas Weiches getroffen, eine Jacke, einen Kragen. Das Zupacken war Reflex gewesen, während sie mit der Linken mit einigen kräftigen Schwimmzügen das flache Wasser und von dort aus watend das rettende Ufer erreichte. Erst nachdem sie den Körper vollends auf die reifüberzogenen Kiesel an Land gezogen hatte, sah sie, dass sie ihre Mutter aus dem Wasser gefischt hatte.

Ein Blick zurück bestätigte, was Atiq bereits wusste: Nur einige Fell- und Rahmentrümmer des Umiak trieben noch im Meer, eine Schwimmblase, ein Paddel, aber von den anderen war nichts zu sehen. Nur sie beide hatten überlebt, sie und ihre Mutter. Sorgfältig strich Atiq das Vielfraßfell der Anorakkapuze und die nassen Haare aus Mutters Stirn. Sie sah kein Blut, das beruhigte sie. Vorsichtig zog das Mädchen die nasse Kapuze zurück und schob sie wie ein Kissen unter den Kopf ihrer Mutter. Dann beugte sie sich über das ungewohnt blasse Gesicht und brachte ihr linkes Ohr ganz nah vor Nase und Mund. Als sie nichts hörte und nichts fühlte, legte sie beide Hände flach auf Mutters Bauch und schüttelte sie sanft. Keine Wirkung.

Aber in der Gürteltasche unter dem Anorak spürte Atiq das halbmondförmige Ulu, das Metallmesser, mit dem Innakatsik immer das Fleisch zerteilte. Atiq öffnete den Beutel, nahm das Messer heraus und auch Mutters Schneebrille aus Wahlrosselfenbein. Sacht strichen Atiqs klamme Finger über die leichte Wölbung der Nasenwurzel und über die eingeritzten Zierleisten unter den schmalen Augenschlitzen. Eigentlich war für eine Schneebrille nur wichtig, dass sie so wenig Licht wie möglich durch die Sehschlitze einließ, denn die glitzernde Oberfläche der endlos scheinenden Schneefelder im Binnenland warf das Tageslicht vielfach verstärkt zurück. Diese gleißende Helle konnte Menschen wahnsinnig machen oder blind. Beides bedeutete den Tod, also war es wichtig, das Licht einzuschränken, gewissermaßen weniger zu sehen, um den Weg nicht zu verfehlen und weiter gehen zu können.

Gehen. Sie würden landeinwärts gehen müssen, um Igloolik zu erreichen. Der Weg um die Halbinsel, den sie mit dem Boot nehmen wollten, war zu Fuß, nass und ohne Fleisch, zu weit. Aber es würde schwer werden, im schneebedeckten Landesinneren die Richtung zu halten, wenn erst einmal der dunkle Saum der Küste aus dem Blick verschwand. Wenn Mutter aufwachen würde, wüsste sie, was zu tun wäre.

Das glatte Stück Elfenbein in Atiqs Hand fühlte sich gut an, fast wie lebendig und ein bisschen warm. Mutters Schneebrille. Atiq presste sie mit der Rechten an ihre Brust und schaute noch einmal forschend in das unbewegte Gesicht. Vorsichtig zog sie mit der freien Linken die Kapuze zurück über den Kopf ihrer Mutter und zog sie ganz dicht zu, dass nicht einmal mehr die Nase aus dem Pelzbesatz schaute. Dann steckte sie das Ulu in ihren Gürtel, erhob sich von den Knien und stand steif neben dem Körper. Aber nur einen Moment lang, dann band sich Atiq die Schneebrille ihrer Mutter vor die Augen, drehte sich um und ging nach Norden.