GMs Gegen-Motor

In der Sowjetunion war er ein deutscher Außenseiter. Und in Deutschland ein russischer

AUS RÜSSELSHEIM KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT

Über die kleine Eisenbahnbrücke für Fußgänger führt der Weg von Portal 24 D der Adam Opel AG durch endlos lang erscheinende Gänge. Vorbei an leeren Büros und Werkstätten und manchmal auch kleinen Fenstern in einen ziemlich verlassenen Gebäudetrakt. Hier sitzt Eugen Kahl, 54 Jahre alt, Betriebsrat. Er arbeitet allein.

Natürlich, die Adam Opel AG hat noch viel mehr Betriebsräte, insgesamt 45. Aber sie sind in einem anderen Trakt untergebracht, gleich über der Personalabteilung, dort ist es netter, heller, moderner. Die anderen nennt Kahl „die Clique der IG Metaller“. Die IG-Metaller dürften froh darüber sein, dass Kahl so weit weg ist.

Kahls Büro bei Opel in Rüsselsheim entspricht dem Weg zu ihm. Der Raum ist wohl schon in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts eingerichtet worden. Die Schreibtische sind abgewetzt, die Stühle abgesessen, ein altes Handwaschbecken hängt an der Wand. In einer Ecke stapeln sich leere und volle Wasserkästen. Schaut er aus dem Fenster, sieht er die Dächer eines leeren Fabrikgebäudes und die Schienenstränge der Eisenbahn.

„Mein Reich“, sagt Kahl sarkastisch. Und darum hat er auch noch Monate lang kämpfen müssen. Denn nach seiner überraschenden Wahl in den Betriebsrat auf einer Gegenliste zur IG Metall, die sich zunächst noch „Freie Wählergemeinschaft“ nannte, wurde dem kleinen Mann mit dem schütteren Haarkranz ein eigener Raum für die Betriebsratsarbeit verweigert. Angeblich aus Platzmangel. Mit dieser „Schikane“ habe alles angefangen, sagt Kahl. Und es endete – vorläufig – mit gerichtlichen Auseinandersetzungen. Auf der einen Seite der Einzelkämpfer auf seiner Isolierstation, auf der anderen der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Klaus Franz von der IG Metall und die Geschäftsleitung der Adam Opel AG. Die Richter stellten sich überwiegend auf Kahls Seite.

Der „Rebell von Rüsselsheim“, wie er inzwischen innerhalb und außerhalb des Werks genannt wird, schießt auch im Streit um die Einsparungen bei Opel quer – und trifft dabei meist seinen Kontrahenten Franz. Der führt die Delegation des Betriebsrats an, die mit dem Opel-Vorstand gerade über den geplanten Stellenabbau verhandelt.

Die letzte Teileinigung, die Klaus Franz vor Weihnachten ausgehandelt hat, nennt Kahl einen „Verrat“ an den Beschäftigten. Schließlich sei eine Betriebsversammlung erst nach dem einvernehmlichen Beschluss zwischen den Arbeitnehmervertretern und den Arbeitgebern zum Abbau von rund 9.500 Stellen in den drei westdeutschen Opelwerken einberufen worden. Die Beschäftigten habe Franz vor die Alternative gestellt: „Friss, Vogel, oder stirb!“. Die Beschäftigungsgesellschaften seien „eine Mogelpackung“. Wo es keine Arbeitsplätze gebe, wie im Ruhrgebiet, der Pfalz, aber auch in der Region um Rüsselsheim, da könne schließlich auch eine Auffanggesellschaft niemanden vermitteln. Und von den Abfindungen bleibe nach Abzug der Steuern – und bei einer eventuellen Anrechnung auf das Arbeitslosengeld – kaum etwas übrig.

Klaus Franz gibt Bescheid, dass er zu diesen Überlegungen gar nichts mehr sagen will. Mit einem Journalisten, der mit Kahl redet, redet Franz nicht.

Er kann ihn ein Stück weit ignorieren, denn Kahl gehört nicht zur Verhandlungsdelegation. Der Gegenspieler kann also seine Vorschläge nicht einbringen. Zum Beispiel seine Pläne, wie die Betriebsabläufe optimiert werden könnten. Wäre damit schon früher angefangen worden, schimpft er in seiner Klause, müsste man bei Opel heute nicht über eine Entlassungen diskutieren. Wahlweise dazu empfiehlt Kahl die Übernahme der Autofabrik durch die Beschäftigten, verbunden mit einer „Abfindung“ für die Opelmutter General Motors in den USA. Teuer werde das nicht, rechnet er vor. Einen symbolischen Dollar hält er für „angemessen“.

Kahl gestikuliert wild und manchmal widerspricht er sich. Einerseits sagt er, dass General Motors Opel loswerden wolle, andererseits dass der Mutterkonzern sein Standbein in Deutschland „niemals aufgeben“ werde. Das macht ihn angreifbar.

Kahl kam 1980 aus Kasachstan nach Deutschland. Ein russlanddeutscher Spätaussiedler. In Kopjesk am Ural wurde er geboren. Nach dem Realschulabschluss lernte er Flugzeugtechniker in Slawjansk und besuchte anschließend die Flugzeugbordmechanikerschule in Kirowograd. Von 1976 bis zu seiner Ausreise flog er als Bordmechaniker mit Aeroflot.

Sich durchzubeißen hat er früh gelernt. „Als Deutsche waren wir in der Sowjetunion doch die verhassten Faschisten.“ Seit Stalins Zeiten war die Familie immer wieder vertrieben worden – quer durch die Sowjetunion. Als er mit seiner schwangeren Frau in die Bundesrepublik kam, war er plötzlich „der Kommunist aus Russland“ und fand auch deshalb in seinem Beruf zunächst keine Arbeit. Dann wurde er Versuchstechniker in Rüsselsheim und entwickelte später im Internationalen Technischen Entwicklungszentrum der Autofabrik neue Motoren mit.

Kahl liegt viel daran festzustellen, dass er „kein Roter“ ist. Das sei bei seiner Herkunft und Geschichte ganz natürlich. Parteien, „auch der christlichen“, misstraue er grundsätzlich. Genau wie – und da ist er wieder bei seinen Lieblingsfeinden – den „etablierten Gewerkschaftsfunktionären“ von der IG Metall. „Wie ein Paria“ sei er im Betriebsrat behandelt worden, nur weil er es gewagt habe, eine eigene Liste aufzustellen – vorbei an der IG Metall: die Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Betriebsangehöriger, AUB.

Die Betriebsräte hätten seine vielen Verbesserungsvorschläge ignoriert, die er in Kopie auch immer dem Personalvorstand und der Personalleitung zukommen ließ. Seine Wortmeldungen seien nicht zur Kenntnis genommen worden. Und vielfach hätten ihn Einladungen zu Sitzungen oder wichtige Unterlagen gar nicht oder zu spät erreicht. Auch seine Anträge auf Weiterbildung wurden zunächst abgelehnt. Und selbst an seinem früheren Arbeitsplatz sei er plötzlich geschnitten worden, nicht von den Kollegen, sondern von Mitgliedern der Bereichsleitung.

Sein Büro liegt in einem entlegenen Trakt. Wie eine Isolierstation. Aber so was kann ihn nicht bremsen

Als er das alles betriebsöffentlich „Mobbing“ nannte und sich beim Personalvorstand beschwerte, seien ihm die meisten Betriebsratsmitglieder der IG Metall „mit offener Feindschaft begegnet“. Franz sprach von „Rufschädigung gegen Einzelpersonen und das gesamte Betriebsratsgremium“.

Inzwischen kann Kahl kleine Erfolge seiner Arbeit verzeichnen. Bei Opel in Bochum gibt es jetzt auch eine Gruppe der AUB. Und im großen Werk in Rüsselsheim ist er bekannter geworden, seit sich die Presse im aktuellen Konflikt bei Opel auch mit seinen Flugblättern und Stellungnahmen beschäftigt. Diese Erfolge machen ihn wieder etwas zügellos. Er kündigt an, dass seine unabhängige Liste 2006 als Siegerin hervorgehen werde: „Wetten, dass?“ Doch dann setzt er gerade einmal „eine gute Flasche Wein“ ein.

Aus der IG Metall ist er nicht rausgeschmissen worden, sondern ausgetreten. Nicht wegen seiner Kandidatur auf der Liste der Unabhängigen. Und auch nicht, weil ihm die IG Metall zuvor einen Listenplatz auf ihrer Betriebsratsliste verweigert habe, obgleich er „mehr als genug Unterschriften“ für seine Kandidatur gesammelt hatte. Kahl kehrte der IG Metall den Rücken wegen der „schäbigen Behandlung“, die Gewerkschaftsfunktionäre dem Bundeskanzler hätten angedeihen lassen. Wegen Harz IV war Gerhard Schröder 2002 von der IG Metall in Frankfurt zu einer „unerwünschten Person“ erklärt worden. Und das, stellt Kahl fest, habe doch dem Ansehen von Deutschland in der Welt geschadet. Einer solchen Organisation jedenfalls habe er auf keinen Fall länger angehören wollen.

Eugen Kahl weiß, dass er manchmal übers Ziel hinausschießt. Und dass er es so seinen Kritikern einfach macht, ihn in die Querulantenecke zu stellen. „Aber“, sagt er dann, „ich kann doch nicht aus meiner Haut.“ Außerdem macht es ihm erkennbar Freude, immer neue Bilder für seinen Kampf zu finden. Von „Reformation des Betriebsrats“ spricht er, den Betriebsratschef Franz nennt er einen „überforderten kleinen Napoleon“.

Und er selbst? Wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel? Der Vergleich gefällt ihm. „Don Quichotte, das bin ich.“