: „Wir leben auf Kosten unserer Kinder“, sagt Wolfgang Kersting
Ziel von Gerechtigkeit ist nicht, die Ungleichheit abzuschaffen, sondern die Chancengleichheit institutionell zu sichern
taz: Sie sind Spezialist für Gerechtigkeit. Einfache Frage, einfache Antwort: Ist Hartz IV – die Reduzierung des Arbeitslosengeldes auf Sozialhilfeniveau – gerecht?
Wolfgang Kersting: Derart konkrete Maßnahmen der Sozialpolitik lassen sich anhand des abstrakten Begriffs der Gerechtigkeit kaum beurteilen. Bei Strukturproblemen hingegen sieht es anders aus. Wenn ich etwa dafür plädiere, Studiengebühren einzuführen, kann ich das durchaus unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten diskutieren.
Warum kapitulieren Sie vor Hartz IV?
Gerechtigkeitsprinzipien sind allgemein. Mit ihnen lassen sich Rahmenbedingungen, Institutionen und Verfassungsstrukturen beurteilen. Für sozialpolitische Details sind sie aber nicht zuständig. Ob eine Leistung um 100 oder 200 Euro gekürzt wird, ist aus der Warte der Gerechtigkeit nicht zu beurteilen. Nur wenn es um Grundsätzliches geht – Sozialhilfe oder keine Sozialhilfe – kann man Gerechtigkeitsprinzipien befragen.
Also grundsätzlich. Kanzler Gerhard Schröder (SPD) sagt: Wegen der Globalisierung ist der bisherige soziale Ausgleich zwischen Arm und Reich nicht mehr zu finanzieren. Ein schlagkräftiges Argument?
Ich glaube schon, dass sich Deutschland heute eine soziale Sicherung leistet, die angesichts der Veränderung der Bevölkerungsstruktur und der weltwirtschaftlichen Verschärfung zu opulent ausfällt. Unser Sozialstaat hat sich der Globalisierung bislang zu wenig angepasst – im Gegensatz zu den Niederlanden oder Skandinavien.
Sie argumentieren nicht mit Gerechtigkeit, sondern mit einer vermeintlichen Notwendigkeit.
Aber durchaus mit der moralischen Notwendigkeit. Denn der Sozialstaat ist eine gute Sache, wir müssen ihn erhalten. Ohne Leistungsabstriche wird das nicht gelingen. Es gibt überdies auch noch einen anderen Grund für den Umbau. Der Sozialstaat hat zu viele Gerechtigkeitsdefizite, er verteilt Lasten und Nutzen zu ungleich. Wir leben auf Kosten der Generationen unserer Kinder und Kindeskinder, die Alten leben auf Kosten der Jungen, die Arbeitsplatzbesitzer auf Kosten der Arbeitslosen.
Wie definieren sie persönlich Gerechtigkeit?
Es gibt Grundgüter, die für jedermann wichtig sind. Dazu gehören das Leben, körperliche Unversehrtheit, Sicherheit, Freiheit und eine hinreichende Versorgung mit existenzerhaltenden und freiheitsermöglichenden materiellen Gütern. Jeder Mensch hat ein Recht auf die gleiche Versorgung mit diesen öffentlichen Gütern. Der Markt allein kann die Gleichverteilung aber nicht gewährleisten. Ich würde einen Staat deshalb gerecht nennen, wenn er die öffentlichen Güter in hinreichendem Maße zur Verfügung stellt und gleichmäßig verteilt.
Entscheidend ist für Sie die gleiche Ausgangsbasis?
Jeder Staatsbürger muss das gleiche Freiheitsrecht haben, in sicheren, anständigen Verhältnissen zu leben. Die institutionelle Sicherung dieser Chancengleichheit ist das große Ziel der Gerechtigkeit, nicht die Abschaffung der Ungleichheit.
An vielen Schulen müssen arme Eltern ebenso wie wohlhabende die Bücher für ihre Kinder kaufen. Wird da die Chancengleichheit, der gleiche Zugang zum Gut Bildung, verhindert?
Wenn bestimmte Familien sich teure Schulbücher nicht leisten können, sollte der Staat sie in der Tat unterstützen. Das Gießkannenprinzip müssen wir aber abschaffen. Jemand mit einem Professorengehalt muss kein Kindergeld erhalten. Der Sinn der Verteilungsgerechtigkeit liegt in der Beachtung des Grundsatzes des Proportionalität.
Ist dieser Grundsatz noch gewahrt, wenn Unternehmen viel weniger Steuern zahlen als früher, normale Leute aber mehr?
Wir alle machen in unserem Leben von den Gütern, Chancen und Möglichkeiten Gebrauch, die die Gesellschaft bereitstellt. Deshalb sollte jeder eine seinem Einkommen entsprechende Benutzungsgebühr zahlen. Und dabei gilt, dass größere Profite sich natürlich in wesentlich höheren Gebühren spiegeln müssen.
Rot-Grün bietet uns heute neue Begriffe an, etwa „Zugangsgerechtigkeit“. Verbirgt sich dahinter die Abkehr vom Ziel der Chancengleichheit?
Die große Veränderung besteht darin, dass die alten Begriffe der Verteilungsgerechtigkeit und der Umverteilung vollständig aus dem gesellschaftlichen Diskurs entfernt werden. Die neuen Begriffe weisen daraufhin, dass der Staat nicht mehr die Ressourcen hat, die vielfältigen Wünsche der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu befriedigen.
Chancengleichheit war das Schlagwort der 70er-Jahre. Nun heißt es „Chancengerechtigkeit“. Wird damit das Versprechen nicht abgeschwächt?
Das glaube ich nicht. Gerechtigkeit beinhaltet auch die Gleichheit der Rechte. Auch Chancengerechtigkeit soll doch sagen, dass jeder Bürger ein grundsätzlich gleiches Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hat. Mit der Hinwendung zur Chancengerechtigkeit ist eine Abkehr von den Illusionen der Verteilungsgerechtigkeit verbunden. Mir ihr gesteht der Staat ein, dass es seine Aufgabe ist, ausschließlich für die Randbedingungen des Lebens der Bürger zu sorgen. Und diese können nur eine Basisversorgung gestatten, jenseits derer die Selbstverantwortung der Individuen zum Einsatz kommen muss. INTERVIEW: HANNES KOCH