: Haltung unterm Pfirsichbaum
Unter dem Titel „Ortszeit Shanghai“ lasen die chinesischen Autoren Ding Liying und Qi Ge in der Literaturwerkstatt
Armes Shanghai. Selten ist eine Stadt in letzter Zeit rücksichtsloser verklärt worden als die „Perle des Ostens“, diese „Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten“, dieses „Experimentierfeld für das neue Jahrtausend“, wie es schon im sonst angenehm sachlichen Programmheft der Literaturwerkstatt heißt. Zentrum des Zeitgeistes, phallische Megapolis, Hure Babylon: Wie gut, dass Klammern dazu da sind, überschritten zu werden, und dass sich die beiden Shanghaier Autoren, die die Literaturwerkstatt zu einem Abend mit dem Titel „Ortszeit Shanghai“ geladen hatte, herzlich wenig um sie scherten. Der eine, Qi Le, 1971 in Shanghai geboren, umriss kurz und bündig, dass er Shanghai nicht möge und lieber in der inneren Mongolei leben würde – dort, wo es weniger Menschen gibt – anschließend las er in Turbogeschwindigkeit ein lustiges futuristisches und dennoch sehr wirklichkeitsnahes Märchen von Armen und Reichen, deren Wohlstand sich in Körpergröße umsetzt. Eine Geschichte wie diese könnte in jeder Metropole der Welt spielen. Die andere, Ding Liying, geboren 1966 in Shanghai, meinte kurz, sie liebe Shanghai sehr – und las danach eine Geschichte über zwei Schwäger, einen Maler und einen Angler, die hauptsächlich herumsitzen und dieser Nichtbeschäftigung ebenso in einer kleinen Stadt am Bodensee nachgehen könnten wie in Shanghai.
Es ist schade, dass deutsche Verlage sich so wenig um junge Literatur aus China kümmern – der chinesische Buchmarkt wächst im Moment schneller als jeder andere, und viele junge Autoren sind nach einer postmodernen Experimentierphase in den Achtzigerjahren zu einem entspannten, gegenwärtigen und detailgenauen Erzählen zurückgekehrt – jenseits der Angst vor sozialistischem Realismus, Vereinnahmung oder Zensur, aber auch völlig unbeeindruckt von den neuen Forderungen des freien Marktes nach sexy Unterhaltsamkeit. Die einzige deutschsprachige Veröffentlichung, die dies dokumentierte, war eine Anthologie mit dem Titel „Das Leben ist jetzt“ mit junger chinesischer Prosa vor einem Jahr – besorgt vom Münchener Sinologen Frank Meinshausen, der übrigens auch den Abend in der Literaturwerkstatt moderierte. Kein Zufall also, dass besonders seine neueste Entdeckung Ding Liying in die Kategorie dieses neuen Realismus passt.
Ihre Geschichte von den beiden Schwägern schlägt einem manchmal so plastisch entgegen wie ein guter Film. Wie sie immer nur darüber nachdenken, dass man vermutlich eingreifen sollte, wenn sich zum Beispiel im Hof ein seltsames Ehepaar schlägt und verträgt – wie sie dann aber lieber den Pfirsischbaum und den weißen Zementweg vorm Haus betrachten: Großartig. Noch großartiger, dass die Autorin auf die Frage nach der Verantwortungslosigkeit ihrer Helden antwortet: „Hier geht es nicht um Gleichgültigkeit. Hier geht es um eine Haltung. Um Daoismus. Man soll nicht immer alles verändern wollen.“ SUSANNE MESSMER