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Archiv-Artikel

Die Angst vor sich selbst

„Es gab eine Million Tote und mehr als eine Million Beteiligte. Wie sollen wir eine Million vor Gericht stellen?“

AUS KIGALI DOMINIC JOHNSON

Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Mord, Völkermord – so lauten die drei Punkte der Anklage gegen Pascal Gakuba. Seit dem 29. März 1996 in Haft und seit dem 2. Februar 1999 ordentlich beschuldigt, ist der Bauer aus Nkusi in der Gemeinde Shyorongi einer von 556.000 Völkermordverdächtigen in Ruanda, deren Anklageschriften vorliegen und die auf ein Verfahren warten. Seine Akte schlummert gemeinsam mit der von elf Dorfgenossen unter der Registriernummer 9186001 im Computer des Justizprojekts der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in der Generalstaatsanwaltschaft in Ruandas Hauptstadt Kigali.

86.000 Akten, 556.000 Angeklagte, 700.000 Zeugen zählt die GTZ-Datei, die lediglich die vorhandenen Dossiers der viel zu kleinen ruandischen Justiz zusammenführt, und noch ist längst nicht das ganze Geschehen des Völkermordes von 1994 systematisch erfasst. Damals wurden unter der Führung einer Militärregierung innerhalb von drei Monaten rund eine Million von sieben Millionen Einwohnern Ruandas im Rahmen einer planmäßigen versuchten Ausrottung der Tutsi-Minderheit getötet, bis eine Tutsi-Guerilla unter Führung des heutigen Präsidenten Paul Kagame das Land eroberte und die Mörder verjagte. Aber je länger das alles zurückliegt, desto gigantischer wird die Aufgabe der strafrechtlichen Aufarbeitung des Genozids.

Vor fünf Jahren noch wunderten sich internationale Beobachter, wie denn Ruanda jemals seine 120.000 der Beteiligung am Völkermord verdächtigten Untersuchungshäftlinge aburteilen solle. Heute sitzen zwar weniger Verdächtige in Haft, aber ihre Gesamtzahl ist viel größer, und ein Ende ist nicht abzusehen. „Es gab eine Million Tote, aber auf jeden Fall mehr als eine Million Beteiligte“, meint der stellvertretende Generalstaatsanwalt Martin Ngoga. „Wie sollen wir eine Million Menschen vor Gericht stellen?“

Das Wuchern der Anklagen hat einen Grund: Die Einführung von so genannten Gacaca-Gerichten – traditionellen Dorfgerichten in jeder Gemeinde, bei denen lokal gewählte Laienrichter Täter und überlebende Opfer der Schreckensmonate von 1994 anhören und miteinander konfrontieren sollen, bevor sie Urteile fällen. Seit Jahren sind die Dorfgerichte im Aufbau, und heute sollen sie erstmals im ganzen Land ihre Gründungssitzungen abhalten, damit dann im Laufe der nächsten Monate in ganz Ruanda Dorfprozesse beginnen können.

International zunächst kritisiert, weil sie lupenreinen Kriterien des Rechtsstaates nicht genügen, wird Gacaca inzwischen international als einzige Möglichkeit gepriesen, inhaftierte Täter jemals der Justiz zuzuführen. Bis heute gibt es in Ruanda nur 180 Staatsanwälte, rechnet GTZ-Justizprojektleiter Dieter Magsam vor: „Wenn 100 davon ausschließlich Genozidverfahren machen, kommen sie insgesamt auf vielleicht 6.000 im Jahr.“ Die reguläre Justiz, so Magsam, hat seit 1994 7.600 Völkermordprozesse geführt, von denen vier Fünftel mit Verurteilungen endeten, zumeist zu gemeinnütziger Arbeit.

Doch noch bevor Gacaca richtig losgeht, wächst es Ruanda bereits über den Kopf. Im Jahr 2000 beschloss Ruandas Regierung die Einführung von Gacaca, und bis jetzt haben erst in einem Zehntel des Landes Gacaca-Pilotprojekte stattgefunden, die zunächst einmal der „Kategorisierung“ dienten, also der Klärung der Frage, wer eigentlich wo weswegen angeklagt ist.

Schon dabei wurden 5.500 angehörte Täter der „Kategorie eins“ von Völkermordbeteiligten zugeordnet – direkten Organisatoren und Leitern von Massakern. Diese können laut Gacaca-Gesetz nicht vom Dorfgericht verurteilt werden, sondern müssen vor ein normales Gericht. Aber auf das ganze Land hochgerechnet, bedeutet das 55.000 Fälle hochrangiger Täter – wieder eine Überforderung der Justiz. „Wir mussten das Gesetz ändern und eine neue Kategorie eins innerhalb der bisherigen schaffen“, erklärt Staatsanwalt Ngoga. Gacaca bedeutet die permanente Improvisation – im Grunde ist das auch das Leitthema der gesamten Justizpraxis von Ruanda. Und selbst wenn es nicht eine Million Täter und Mitläufer geben sollte, sondern nur die 556.000, deren Namen bereits in den Akten stehen, müsste zu einer korrekten Aufarbeitung des Völkermordes praktisch das gesamte Land aussagen – etwa die Hälfte der acht Millionen Einwohner Ruandas ist über 18 und damit sowohl volljährig wie auch in der Lage, sich einigermaßen an 1994 zu erinnern. Aber Ruanda kann ja schlecht ein paar Jahre lang Urlaub von der Gegenwart machen, um sich kollektiv in eine kaum fassbar brutale Vergangenheit zurückzubegeben.

Mit Gacaca verlagert der Staat die Bürde der Vergangenheitsbewältigung zurück in die Gesellschaft. „Gacaca gewährt keine Straffreiheit; es ist ein Verfahren, das Täter bestraft“, erklärt Vizegeneralstaatsanwalt Ngoga, „aber in einer Weise, die ihre Reintegration in die Gesellschaft erlaubt und dem Staat keine Lasten auferlegt.“ Doch kann die Gesellschaft die Lasten tragen? Noch heute ist Ruanda ärmer als vor dem Völkermord.

Mit der Anfang 2003 begonnen Entlassung tausender Untersuchungshäftlinge aus dem Gefängnis zurück in ihre Heimatgemeinden, wo sie auf die Vorführung vor ein Gacaca-Gericht warten, hat die Verlagerung der Vergangenheitsbewältigung vom Staat in die Gesellschaft bereits begonnen. Die Zahl der Völkermordhäftlinge liegt heute bei nur noch 66.000. Die andern leben nun zu Hause: dort, wo sie gemordet haben. Schuldig gesprochen sind sie noch nicht, eine Strafe müssen sie nicht verbüßen. Das schafft extreme Spannungen in den Dörfern, gibt Ngoga zu. „Wir stecken Genozidverdächtige in die Gesellschaft, und sie stehen ihren Opfern von Angesicht zu Angesicht gegenüber“, erklärt er. „Das ist sehr unpopulär.“

Zumal die im Prinzip von der Regierung zugesagte Entschädigung von Überlebenden des Völkermordes mangels Geldes auf sich warten lässt. Es gibt jetzt einen „Hilfsfonds für Völkermordüberlebende“ in Höhe von 3,9 Milliarden ruandischen Franc, aus dem Gebühren für Schul- und Arztbesuche bezahlt werden sollen. Das sind läppische 5 Millionen Euro. Aber auch das sind schon 5 Prozent des Staatshaushalts.

Die Massenentlassungen von Völkermordhäftlingen verschärfen die Spannungen. Eine Serie von Morden an Völkermordüberlebenden des durch mutmaßlich entlassene Täter in der Provinz Gikongoro Ende 2003 rüttelte das Land auf und führte zu einer Serie Aufsehen erregender Gerichtsverfahren. Die Regierung von Präsident Paul Kagame sah sich in ihrem harten Kurs gegenüber „Völkermordideologie“, auch „Divisionismus“ genannt, bestätigt. Eine in Reaktion auf die Morde eingesetzte parlamentarische Untersuchungskommission empfahl der Regierung das Verbot der wichtigsten unabhängigen Menschenrechtsgruppen. Umgesetzt wurde das nicht, aber seitdem sind Ruandas zivilgesellschaftliche Gruppen noch gefügiger als vorher.

An eine politische Öffnung, die auswärtige Kritiker der Regierung Kagame immer wieder fordern, ist im Rahmen der vom Ausland genauso lautstark geforderten Bewältigung der Vergangenheit nicht zu denken. Im Gegenteil: Je präsenter die Spaltungen der Vergangenheit wieder sind, desto hartnäckiger muss der Staat darauf bestehen, dass Ruanda heute keine Unterschiede mehr kenne.

Das macht allerdings einen unbefangenen Umgang mit der Geschichte schwer. „Ruandas Bevölkerung hat Angst vor sich selbst“, analysiert der ruandische Politologe und Konfliktforscher Jean-Paul Kimonyo. Er konstatiert neuerdings eine Zunahme von „Gewalt niedriger Intensität, zum Beispiel Morde innerhalb der Familie“.

Ruandas Generalstaatsanwalt Jean de Dieu Mucyo, selbst ein Überlebender des Völkermordes, sieht schon ganz neue Herausforderungen. Zum Beispiel die Zunahme von Vergewaltigungen, nach offiziellen Angaben der Hauptform von Kriminalität in Ruanda heute. Eine Vergewaltigung pro Tag wird in Kigali gezählt. In Ruandas Hauptstadt, die aufgrund der massiven Landflucht rasant wächst und bald die Millionengrenze erreichen wird, ist das im internationalen Vergleich wenig – für Ruanda ist es viel, zumal viele der Opfer Völkermordwaisen sind und die Täter sich in deren Aufnahmefamilien finden. So führt auch die „normale“ Kriminalität schnell wieder nach 1994 zurück.

Vergewaltigungen vor Gericht zu behandeln ist in Ruanda schwer. Meist steht Aussage gegen Aussage. Nach deutschem Rechtsstandard, darauf weist der Deutsche Dieter Magsam hin, sind Zeugenaussagen keine für eine Verurteilung ausreichenden Indizien. Aber soll man deshalb die Vergewaltiger laufen lassen? Das versteht kein Ruander, und es würde höchstens zu Lynchjustiz führen. Nun hat das Hamburger Institut für Gerichtsmedizin kostenlose DNA-Analysen angeboten und will ruandische Mediziner in der Auswertung schulen. So ein Modellprojekt, das nach GTZ-Vorstellungen einhergehen soll mit einer Professionalisierung der ruandischen Justiz insgesamt, könnte Pilotcharakter haben, meint Mucyo – zum Beispiel für ein weithin verschwiegenes Thema: Wirtschaftskriminalität.

Doch erst einmal steht Ruanda vor dem Gacaca-Berg. „Wie sollen wir jemals alle die Leute bewachen, die in Gacaca-Verfahren verurteilt werden?“, fragt sich Ngoga und weiß selbst keine Antwort. Es gibt Beobachter, die vermuten, dass Gacaca in den nächsten zwei bis drei Jahren einen „kalten Tod“ sterben wird – durch Massenamnestie.