: Der Mythos vom Verwaltungsidyll
NATIONALSOZIALISMUS Eine Flensburger Tagung widmet sich dem „Reichskommissariat Ostland“, wo die Nazis 90.000 Juden ermordeten. Sie untersucht die Legenden, mit denen sich die Täter reinwuschen
Im Schleswig-Holstein der 50er Jahre wurde das Wort nur gewispert, und das nicht zufällig: Das „Reichskommissariat Ostland“ (RKO), wie die Nazis das besetzte Baltikum sowie das westliche Weißrussland nannten, war Haupttatort des Holocaust. Die NS-Täter indes ließen sich nach 1945 großteils in Schleswig-Holstein nieder, von wo sie stammten. Nahtlos konnten sie sich wieder integrieren – vor allem mit Hilfe von Legenden. Zentral dabei: der Mythos von der harmlosen Zivilverwaltung, die an der Ermordung von 90.000 Juden nicht beteiligt gewesen sei.
Die Nachkriegsgesellschaft glaubte es gern. Nach Jahrzehnten erst wurden die „Direkttäter“ angeklagt, noch zögerlicher deren baltische Kollaborateure. Nur ein Einziger – der Lette Victors Arajs – wurde in Deutschland angeklagt und verurteilt. „Es hätten Tausende sein müssen“, sagt Robert Bohn, Geschichtsprofessor an der Flensburger Universität und Direktor des Instituts für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte. Er hat eine Tagung in Flensburg mitorganisiert, die sich den Legenden widmet, die die „Zivilverwalter“ des RKO erfanden, um besser dazustehen. Denn zwar gab es im Baltikum keine KZ. Aber die Juden wurden in „Arbeitslager“ wie Jungfernhof und Salaspils bei Riga deportiert, deren SS-Aufseher als besonders grausam galten.
Antisemitismus allerdings hatten die Nazis bereits kurz nach dem Einmarsch am 1. Juli 1941 angetroffen: Unmittelbar danach begannen in Riga Pogrome, die die Besatzer gern duldeten. „Antisemitismus war nur eine Ursache. Wichtiger noch war der Antirussismus“, sagt Bohn. „Aggressionen, die sich nach einem Jahr russischer Besetzung entluden.“ Doch dabei blieb es nicht: Bereitwillig kollaborierte man mit den Besatzern. „Die von den Russen degradierten Staatsspitzen, das Militär sowie kleinere faschistoide Gruppen hofften, mit Hilfe der Deutschen ihre Eigenstaatlichkeit zurückzuerlangen“, sagt Bohn. Für die NS-Täter andererseits waren Kollaborateure nach 1945 willkommenes Argument zu ihrer Entlastung.
Ob sich auch Hinrich Lohse, Chef der Zivilverwaltung des RKO und einer der Hauptverantwortlichen für den Genozid, darauf berief, ist unklar. Sicher aber ist, dass er überzeugter Nazi und Antisemit war – wenn auch ambivalent. „Er hatte durchaus Schuldgefühle“, sagt Historiker Uwe Danker, der Lohses Vita für die Tagung exemplarisch erforscht hat. „Er hat nur halbherzig interveniert und im Wesentlichen die Anweisungen des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg, ausgeführt. Lohse war kein Ich-starker Mann.“ Und stehe daher vielleicht exemplarisch für einen verbreiteten Mitläufer-Typus. „Es geht mir nicht darum, ihn reinzuwaschen“, sagt Danker. „Aber mich interessiert, wieso jemand mit Tötungshemmung trotzdem wichtigster Beförderer des Genozids bleibt.“ Denn das war die so harmlos klingende „Zivilverwaltung“ des RKO zweifellos: „Sie definierte, wer Jude war, verwaltete deren geraubtes Vermögen, stellte den Fuhrpark bei Erschießungen, systematisierte die Ermordungen“, sagt Danker.
Aber es waren eben Schreibtischtäter, denen „niedere Mordmotive“ schwer nachzuweisen waren. Und genau hieran ist die Nachkriegs-Rechtssprechung gescheitert. Nur ein einziger „Zivilverwalter“ des RKO – Heinrich Gerike – wurde verurteilt. Alle anderen Verfahren wurden eingestellt. PETRA SCHELLEN
„Das Reichskommissariat Ostland – Tatort und Erinnerungsobjekt“: 28.–30. 5., Universität Flensburg. Anmeldung: 04621– 86 18 90 oder www.sekretariat@izrg.de