Errötende Endzeit

Mit viel Sorgfalt widmet sich der Spielfilm „Wellen“ (Arte, 20.40 Uhr) seinen Figuren, bevor der Krieg sie verschlingt

Ein Frauenschicksal an der Ostsee, bei wechselnden Wetterverhältnissen. Eduard von Keyerling hat die Geschichte der Alice, die ihren 30 Jahre älteren Mann für einen jungen Maler verlässt, den sie bald aber auch nicht mehr lieben kann, 1911 aufgeschrieben. 1998 wurde sein schmaler Roman „Wellen“ neu entdeckt und vom „Literarischen Quartett“ neu hochgejubelt (für 4,90 Euro kann man ihn, kleiner Tipp, in der SZ-Bibliothek nachlesen).

Nun hat Vivian Naefe ihn verfilmt: an Schauplätzen in Litauen, mit dem Willen zur historischen Genauigkeit (Kostüme, Frisuren, Dienstboten) und zum emotionalen Kammerspiel (Blicke, Erröten, versteckte Gemeinheiten in den Dialogen). Die Handlung ist in den Sommer 1913, direkt an den Vorabend des Ersten Weltkriegs, vorverlegt. Alice von Köhne-Jasky, Rolf von Buttlär, Carl von Gonthard oder auch Geheimrat Frosenius heißen die Figuren – ein Sittengemälde aus der versunkenen Zeit des preußischen Adels, die als Endzeit gedeutet wird: Ganz am Schluss werden zwei Flugzeuge, schnittige Doppeldecker, schon mal in Richtung Schlachtfelder von Flandern vorausfliegen und damit anzeigen, dass die Welt bald andere Sorgen haben wird. Zwischendurch hat die Kamera immer wieder die Wellen gezeigt, wie sie am Strand alle menschlichen Spuren verwischen. Wie der Zauberberg bei Thomas Mann, wie das Kakanien von Musil wird auch diese Sommerfrischlerkultur an der Ostsee verschwinden im großen Krieg.

Was einen nerven kann am Drehbuch, ist, dass die Figuren oft in Sentenzen sprechen: „Es gibt Dinge, die müssen erst gelebt sein, ehe wir über Konsequenzen nachdenken können – kennen Sie etwas Fataleres?“ Schön aber ist, dass die Verfilmung die Figuren sehr ernst nimmt und sich nur ganz selten in die Karikatur flüchtet.

Marie Bäumer spielt die Alice, die erfahren muss, dass die Trennung von einem Mann – und zieht sie auch noch so große gesellschaftliche Ächtung nach sich – noch immer keine Emanzipationsgeschichte ausmacht; bei ihrem zweiten Mann, dem (sich als untalentiert herausstellenden) Maler Til Knop, versinkt sie in die Depression. Während die Alice wie aus Tschechow’schen Vergeblichkeitsdramaturgien zu stammen scheint, zeichnet Vivian Naefe den Carl – Alices neuerliche Verführung, sich in die Liebe zu verlieben – zunächst so differenziert, als wolle sie der Figur des schneidigen preußischen Leutnants neues Leben einhauchen. Erst als er in der Liebesnacht seinen großen Traum erzählt – von Flugzeugen aus Gasbomben abwerfen und so den vorausgeahnten Krieg entscheiden –, erkennt Alice, dass nicht sie, sondern er der „eigentliche Skandal“ ist. Den Wellen der Ostsee ist auch das ziemlich egal.

DIRK KNIPPHALS