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Archiv-Artikel

Das Unübertragene gibt es nicht

KATASTROPHEN Man ist dabei gewesen beim elften September, nur beim eigenen Leben nicht. Man sagt auch nicht: der elfte September des Sozialhilfesatzes

LAN. Drei Tage junge Literatur und Musik

An Pfingsten wird in heiligen Zungen geredet: Das nutzt das Texttonlabel KOOK in Zusammenarbeit mit goldmag.de, um unter dem kryptischen Titel „LAN“ drei Tage lang zu junger Literatur und Musik ins HAU einzuladen, wo „zeitgeschichtliche Rechercheprosa experimentelle Lyrik, Textbildgeschichten und Beatboxmonologe“ zum Besten gegeben werden. 18 Autoren und Autorinnen werden kommen, unter ihnen Jenny Erpenbeck, Lucy Fricke, Kathrin Röggla und Henning Ahrens. Gleichberechtigt mit der aufstrebenden literarischen Intelligenz treten Singer-Songwriter und Bands auf, denen der literarische Mainstream oftmals mit Skepsis gegenübertritt. Jens Friebe, Tarwater, Wolfgang Müller, die Frank Spilker Gruppe und andere sollen die Sprache im Theater am Halleschen Ufer zum Klingen bringen. Zum Festival hat uns Kathrin Röggla eine kurze Geschichte geschrieben über die Sprache in Zeiten der Katastrophenmeldungen. 29. bis 31. Mai, im HAU 2, jeweils ab 19 Uhr.

VON KATHRIN RÖGGLA

„auch ein elfter september, sagt man, da hast du also einen weiteren elften september erlebt. es ist aber einer im übertragenen sinn, betonen sie dann, damit man es auch richtig versteht. was unsinnig ist, denn alle verstehen schon richtig. ein zweiter elfter september, das könne nicht sein, den gibt es immer nur allein.“

sie weiß wieder, wie man spricht und er, er hält sich da nicht dran: „unsinn, man sagt eben nicht: der elfte september des gesundheitssystems oder der elfte september des sozialhilfesatzes. diesbezüglich wenden wir lieber tsunamis, erdbeben, hurricanes und springfluten an.“ – „die tsunami 2004 hat man noch nie auf etwas übertragen!“, ist sie sich sicher, doch er geht darauf nicht ein. „nein, man sagt eben nicht: ein kleiner elfter september, ein umgekehrter elfter september, mein persönlicher elfter september und deutet auf eine private stelle in seinem gesicht. ja, einer der nur auf eine person zutrifft, das wäre es mal. aber: machen sie ja nicht.“ –

jetzt wolle er aber doch provozieren! – aber nein, wolle er nicht. er fordere nur sprachlichen inflationsausgleich. „bzw. wäre es nicht besser, ihn gleich von vorneherein auf alles zu übertragen, wo er doch alles infiziert und überzieht mit seinem gesicht.“ – nein, infiziert sei sie noch lange nicht! außerdem: wo kommen wir da hin, wenn er hier in krankheitsmetaphern ausbreche? das weiß er natürlich nicht. er weiß nur: immer ist man dabeigewesen beim elften september. ein jeder könne erzählen, wo er gewesen sei, damals in jenem moment, als er es erfahren habe, „damals, als es passiert ist“. und ein jeder erzähle es auch gleich, ungefragt und auf der stelle, als ob das noch eine rolle spiele, als ob man noch irgendwie im rennen sei in dieser geschichte, die nicht und nicht weitergehe. – wann sie endlich zu ende sei? – „ach, wir befinden uns in der sekundären oder gar tertiären instrumentalisierungsschicht.“ – zumindest fern vom tageslicht. schließt sie.

jetzt wissen sie einen moment lang nicht weiter, jeder für sich. konferenz beendet könnte man sagen, wenn im zimmer nicht so viele übertragungsraten wären, die jetzt mit handlungen zu überwuchern sind. doch woher nehmen, wenn nicht stehlen?

ja, immer ist man dabeigewesen beim elften september, nur beim eigenen leben nicht, könnte man sagen, und er gebe ihr auch recht, wäre er nicht immer noch dabei, verwandschaftsgrade zwischen naturkatastrophen und sozialen desastern zu messen: „die gibt es nicht!“ außerdem: man könne naturkatastrophen ohnehin nur metaphorisch verstehen, weil: „finden immer im gesellschaftlichen rahmen statt“, d.h. die anderen interessierten nicht. als gutes beispiel habe er jakutsien zur hand. jakutsien mit seinen überschwemmungen, wassermassen, die eine saisonlang keine meldung wert waren. warum? weil es dort zu wenig gibt. – zu wenig menschen? zu wenig industrie? zu wenig kapital? – er kann sich da nicht entscheiden. er weiß alleine, dass alles eine aufmerksamkeitshierarchie besitzt. – „das erdbeben in mexiko interessiert uns nur, wenn es auch eine schweinegrippe in mexiko gibt? und die schweinegrippe interessiert uns nur, wenn sie sich auf flugreisen in richtung new york begibt? so ungefähr?“ – ja, so ungefähr.

und dann? dann vieles unbesprochen bleibt. z.b. wie dieses „ungefähr“ besticht. unbesprochen bleibt: das unübertragene gibt es nicht. noch besser: es bleibt zumindest in diesem zimmer eine kurze weile auf seinen hierarchien sitzen. gottseidank.