Helden des Rückzugs

KOLUMNE VON MATHIAS GREFFRATH Fetisch Wachstum: Vorschlag für einen Runden Tisch der Abwickler

■ Jahrgang 1945, lebt in Berlin. Er studierte Soziologie, Geschichte und Psychologie an der FU. Als Publizist beschäftigt er sich seit 1995 vor allem mit den Auswirkungen der Globalisierung. An dieser Stelle analysierte er zuletzt das überholte Menschenbild der Wirtschaftswissenschaften.

Pfingsten 2009. Wir. Sind. Volk. Die Parole ist zerrissen, die drei Wörter kommen nicht zusammen auf den luftigen Transparenten über der Berliner Freiluftausstellung zur Wende von 1989. „Man sagt nicht Wende’“, klärt uns beflissen unsere junge Besucherin aus München auf. „In der Schule haben wir gelernt, es heißt ‚Friedliche Revolution’, mit großem F. ‚Wende’, das hat nur Krenz gesagt.“ Über dem Alex winkt der Fernsehturm, eine Agentur hat ihn mit Touristensprüchen vollgeklebt: „Mausi, ich liebe Dich“, und zwischen den Lebenswelten von Kaufhof und Saturn lassen wir uns generationsübergreifend noch einmal einfangen von den Sprechchören, sehen mit Rührung den Zementsäcke schleppenden Václav Havel, die klandestinen Treffen des Neuen Forums, die Gespräche in Havemanns reformkommunistischem Garten, Schabowski, der es satthat, wir sehen den Sturm auf die Stasizentrale – und erzählen der jungen Besucherin von alten Zeiten.

In der Humboldt-Uni und im Historischen Museum veranstalteten die Bundeszentrale für Politische Bildung und die Bundeskulturstiftung ein Pfingstwochenende lang ein „Geschichtsforum“. Zur Eröffnung sprach auch Timothy Garton Ash von der „Friedlichen Revolution“. Nach den Klassikern von 1789, 1848 und 1917 sei sie das neue Revolutionsmodell. Eines mit Zukunft, sagte Ash. Allerdings sprach er dieser Revolution viele Väter zu. Möglich sei sie nur geworden durch eine Art antagonistischer Kooperation: das Zusammenspiel von Dissidenten des Dritten Weges, der Massenbewegung der Ausreiser, die nicht mehr an die Reformierbarkeit glaubten – und der kommunistischen Eliten, die nicht dem Tiananmen-Beispiel, sondern dem Gorbatschow-Kurs folgten und Schritt für Schritt, unter dem Druck der Straße, in die Einschränkung ihrer Macht einwilligten.

Auf dem Alexanderplatz allerdings findet sich, unter all den heroischen Fotos von Demonstrationen, Verhaftungen, Konspirationen, nur in einem Eckchen ein Foto von Gorbatschow, nebst kurzem Kommentar. Vor 20 Jahren, so belehren wir unsere junge Besucherin, hatte der schnellsichtige Enzensberger diese kommunistischen Kader als „Helden des Rückzugs“ gepriesen, als „Facharbeiter des Verzichts, des Abbaus, der Demontage, des Räumens unhaltbarer Positionen“. Und weiter hieß es in seinem Aufsatz von 1989: „Die Aufgaben, die (bei uns) zu lösen sind, verlangen Fähigkeiten, die am ehesten an solchen Vorbildern zu studieren sind. Sie erfordern die Zerlegung von Schlüsselindustrien, die auf lange Sicht nicht weniger bedrohlich sind als eine Einheitspartei. Die Zivilcourage, die dazu nötig wäre, steht der kaum nach, die ein kommunistischer Funktionär aufzubringen hat, wenn es darum geht, das Monopol seiner Partei abzuschaffen. [...] Die Kunst des Rückzugs ist (unserer politischen Klasse) fremd. Sie hat noch viel zu lernen.“

20 Jahre, eine Klima- und eine Weltwirtschaftskrise später glauben immer weniger Bürger – folgt man der Demoskopie – an die Reformierbarkeit der parlamentarisch begleiteten finanzkapitalistischen Mächte. Aber selbst in der linken parlamentarischen Opposition stellen sich nur Minderheiten der Erkenntnis, dass wir alle zu „Helden des Rückzugs“ werden müssten. Dass eine Demontage unserer Lebensweise ansteht. Dass selbst eine Vermögenssteuer oder neun Mehrwertsteuerpunkte gerade einmal reichen würden, ein zukunftsfähiges Bildungssystem zu finanzieren – von allem anderen nicht zu reden. Und schon gar nicht von Verzicht. Der Fetisch Wachstum ist so zementiert wie einst im Osten der von der „Herrschaft der Arbeiterklasse“. Die Forderung nach einem „Dritten Weg“ – denn sowohl „Revolution“ als auch „Zusammenbruch“ sind längst zu abseitigen Abstraktionen geworden – findet sich zwar überall, in NGOs, in den Gewerkschaften, allen Parteien, allen Verbänden – aber überall in einflussloser Minderheit. Einstweilen glauben die herrschenden Eliten noch, dass sie mit kleinen Nachregulierungen durchkommen. Mit „Wenden“ eben. Und wohin sollten die „Ausreisewilligen“ des späten Kapitalismus auch gehen? Wir leben im tiefdeprimierten Frieden, einer Art Breschnew-Periode des allerspätesten Kapitalismus.

„Aber dann ist Friedliche Revolution vielleicht wirklich das Modell der Zukunft“, unterbricht unsere Besucherin den altlinken und unpfingstlichen Vorruhestandsmonolog – aus dem Lautsprecher kommt gerade Ulbrichts Stimme: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten …“ Und auf unsere erstaunte Frage, wo denn die demonstrierenden Massen seien, lacht sie uns aus: „Das ist doch sehr schematisch gedacht. Irgendwie retro. Man könnte doch die Reihenfolge einmal umkehren.“ Und dann zieht sie uns vor das große Foto vom Runden Tisch, an dem die Abwicklungsbereiten unter den alten Eliten mit denen vom Neuen Forum und den Kirchen ein paar Monate lang kooperierten. „Das war doch, wenn ich es richtig gelesen habe, eine informelle Nebenregierung, die niemanden ausschloss, wenn er nur die Erkenntnis hatte, dass es so nicht weitergeht, ein Gremium ohne reale Macht, aber mit viel Einfluss? Wenigstens eine Zeit lang.“ Und kaum haben wir genickt, setzt sie nach: „ Wenn die alten Institutionen nur noch Blockaden hinkriegen, aber in allen Organisationen Minderheiten sitzen, die in ein paar zentralen Fragen wie Bildung, Klima, Sozialsystem ähnlich starken Handlungsdruck verspüren, dann könnte man doch mal versuchen, die an einen Tisch zu kriegen. So wie damals, zunächst lokal, und dann zentral: Leute aus allen Parteien, den Gewerkschaften, den NGOs, den Handelskammern, den Unternehmen. Ideologieübergreifend. Keinen ausschließen. Und die Zukunftsfähigen aus ihren brüchigen Loyalitäten befreien. Könnte doch Folgen haben … und vielleicht wird ein Funke draus.“

Wir leben im tiefdeprimierten Frieden, einer Art Breschnew-Periode des allerspätesten Kapitalismus

Und dann fragte sie uns freundlicherweise nicht, wann wir das letzte Mal ernsthaft mit Leuten geredet oder gar kooperiert hätten, die nicht von vornherein dieselben Zeitungen lesen, dieselben Klamotten tragen und dieselbe Vorgeschichte haben wie wir, sondern zitiert mit maliziösem Lächeln: „Rechts und links, das ist doch die Sprache von Erstsemestern. Roosevelt. New Deal.“