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Archiv-Artikel

Pathos der Ungleichheit

Nähmen wir Grundrechte und Demokratie ernster, dann verstünde sich von selbst ein gebührenfreies Bildungssystem – und zwar vom Kindergarten bis zu den Hochschulen

Nun wird die Klassendiskriminierung sogar wieder in die Universitäten eingeführt

Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am Mittwoch seine Entscheidung über zwei Sachverhalte verkündet und begründet: Erstens, ob Gebühren fürs normale Fachstudium erhoben werden dürfen – und zum zweiten, ob eine Vertretung der Studierenden auf Bundesebene vorzusehen sei, die sich dann folgerichtig auf die in den 16 Bundesländern auswirkte.

Wie schon erwartet, hat Karlsruhe schließlich denen grünes Licht gegeben, die den staatlich-exekutiven, nicht den demokratischen Föderalismus stoiberteufelgespitzt hochhalten.

Damit wäre der Organstreit zwischen den Ländern und dem Bund entschieden – und zwar zugunsten der Länder. Das scheint keiner Aufregung wert, sind doch ohnehin bildungs- und arbeitsmarktpolitisch ausschlaggebende Definitionsfaktoren EU-, wenn nicht weltmarktwärts gerückt. Indem das Verfassungsgericht jedoch nur einen Kompetenzstreit entschieden zu haben scheint, hat es gewichtig und mit massiven Nachwirkungen in der Sache entschieden. Es hat sehenden Auges, in seinen Urteilsgründen erkenntlich fahrlässig, auf lange Sicht erhebliche Probleme verursacht.

Kaum noch aufzuhalten ist:

1.) eine soziale, bildungspolitisch fortgesetzte und verstärkte Ungleichheit;

2.) dass das ohnehin lernbehindernde Akkreditierungs-, scheingerecht-willkürlich disziplinierende Notenunwesen materiell befördert wird;

3.) dass die Länder in eine Gebührenkonkurrenz zu Lasten der Studierenden eintreten werden, um ihre anders verschuldeten Haushaltslöcher zu stopfen. Sie frönen so dem universitär landes- wie bundesherrlich vorgesehenen Elitismus innovativer Hochburgen;

4.) eine demokratische Verarmung: nicht einmal regelhafte Vertretungen der Studierenden auf allen Ebenen werden verpflichtend vorgesehen.

Auf die verfassungsjuristischen Argumente des 2. Senats kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Der Hinweis muss genügen: Die vorgetragenen Urteilsgründe sind bestenfalls fadenscheinig. Wozu wurde nach dem Nationalsozialismus ein juristisch-überjuristisches Bundesverfassungsgericht geschaffen, wenn es über die materiellen Folgen von Organstreitigkeiten beredt schweigsam hinweggeht? Wozu soll ein solches Verfassungsgericht gut sein, wenn es das Grundrecht, das alle Grundrechte zusammenhält, wie eine vernachlässigbare Größe behandelt: die Gleichheit der Lebenschancen aller Bürgerinnen und Bürger und ihrer zentralen Lebensbedingungen. Es folgt vertrauensselig mit haltlosen empirischen Als-ob-Argumenten den Wünschen einiger machtgieriger Ministerpräsidenten.

Die verhalten spürbare Kritik am Bundesgesetzgeber, der in Sachen Bildungs- und Hochschulpolitik ein normatives Sammelsurium vorgelegt hat, ist allerdings berechtigt. Hinzu kommt ohnehin, dass die vom Bund ausgehende Bildungspolitik in ihrem leeren Innovations- und Elitetaumel den Ländern im Mangel an Qualität nicht nachsteht. Und doch: Wie kann sich ein Verfassungsgericht nur so hinter einer höchst fragwürdigen Interpretation strittiger Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern verstecken?

Etliche machtvolle Länderexekutiven scharren freilich längst, Geld grabend, mit scharfen Hufen. Endlich Studiengebühren! Die neue Freiheit des bildungspolitisch verstärkten und zur zweiten Natur individualisierten Ungleichmachens naht. Nachdem die private bildungsbürgerliche Prämisse in den schlimmen 60er- und Anfang-70er-Jahren mit dem bestenfalls liberalen Ruf „Bildung ist Bürgerrecht!“ ein wenig „nach unten“, zu Frauen, zu Bauern- und Arbeiterkindern verändert worden ist, wird nun die Klassenbildung sogar in die Universitäten eingeführt.

Nach Maßgabe des so genannten Bologna-Prozesses sind zum ersten Mal in der deutschen Universität drei Studienklassen eingerichtet worden: die Klasse derjenigen, die hunderttausendfach ihrer Abiturnote halber nicht zugelassen wird, obwohl diese Note erwiesenermaßen über die kognitiven Qualitäten nicht aussagekräftig ist – wir schätzen, dass etwa ein Drittel der heutigen Eltern am Numerus clausus scheiterten.

Die große Gruppe der kurzzeitig Studierenden, die man dann flexibel und kostengünstig in den Arbeitsmarkt werfen oder aus ihm herausdrängen kann. Hartz IV-Diskriminierungen und Disziplinierungen wirken allseits.

Und schließlich die klein zu haltende Gruppe der Meister-Studierenden, der mit prätentiösen Chromstangen versehenen „Centers of Excellenz“ mit innovativen Angeboten. Sie ist später schwereren Geldbeuteln vorbehalten – und voll des Leistungspathos der wonnevollen Ungleichheit.

Dazu kommt nun das verfassungsrichterliche Loch der Studiengebühr. Das dürfte sich rasch verbreitern und vertiefen. Was immer man reden mag – es lässt sich genau belegen: Studiengebühr heißt, die gleichen Chancen, studieren zu können, schon im frühen Traum der Eltern so restriktiv zu fassen, dass eine klassenspezifische Diskriminierung die Folge ist. Eine Stipendienpolitik, die diese Diskriminierung ausgleichen wollte, wird immer unzureichend ausfallen. Sie käme für viele zu spät. Sie verstärkte die heute das Studium vieler schon strangulierende Jobberei.

Mit Bildungspolitik lässt sich keine verfehlte soziale Strukturpolitik ausgleichen

So wie es aussieht, werden die Versicherungen, die Banken und die Kreditbank für Wiederaufbau diejenigen sein, die den Wettlauf um die Studiengebühren dauersiegreich beenden. Außerdem verschärft jedes Stipendienwesen das Schein- und das veräußerlichte Notenstudium.

Mit Bildungspolitik lässt sich keine verfehlte soziale Strukturpolitik ausgleichen. Bildungspolitik ist kein Ersatz für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die Ungleichheiten fundiert und zementiert. Manche Politiker reden rasch vom „Konsens der Demokraten“ , wenn’s ihre Borniertheit nichts kostet. Nähmen sie Grundrechte und Demokratie ernster, dann verstünde sich von selbst ein durchgehend öffentliches, durchgehend gebührenfreies, das heißt auch nicht am Bändel der staatlichen Exekutive gezügeltes Bildungssystem vom Kindergarten bis zu den Universitäten.

Was also gegen diesen fatalen Urteilsspruch, was gegen das mutmaßliche Wettrennen nach Studiengebührengold der Länderexekutiven tun? Wir können nur hoffen, dass sich an den Universitäten, den Schulen Opposition regt. Dass die Kritiker sich zusammentun und die Straße nicht vergessen.

Studiengebühren sind der Anlass, gegen die Gleichschaltung der Hochschulen mit dem Markt und seiner nur monetär, konkurrenztoll und ungeichheitserpichten „Rationalität“ zu streiten. Ein solcher umfangreicher Streit sollte freilich nur entfacht werden, wenn anders ausgerichtete und anders organisierte Hochschulen als positives Modell gegen den Gebühren-, Akkreditierungs- und Freiheitsauskauf gesetzt werden.

WOLF-DIETER NARR PETER GROTTIAN