Die Angst der Pfeifen

Wenn heute um 15.30 Uhr die Spiele der Bundesliga angepfiffen werden, dürfen sich die Kollegen des Schiedsrichters Robert Hoyzer sicher einiges anhören – und es wird kein Wunschkonzert sein

VON ADAM LUX

Wenn sich ein Torhüter fürchtet, dann gewiss nicht vor dem Elfmeter. Er kann nur gewinnen. Wenn er hält, dann ist er der Held. Wenn er sich geschlagen geben muss, dann … tja, was hätte er schon tun können? Anders sieht’s beim Schiedsrichter aus. Indem er über die Einhaltung von Regeln wacht, schafft der Schiedsrichter in der Regel erst die Voraussetzung für ein Spiel, in das einzugreifen ihm nicht gestattet ist. Je effizienter er seine Arbeit macht, je ungestörter also das eigentliche Ereignis sich entfalten kann, umso mehr verblasst die Gestalt des Schiedsrichters selbst. Unters Brennglas einer aufgebrachten Öffentlichkeit gerät der Unparteiische nur, wenn seine Entscheidungen von einer Partei angezweifelt werden, wenn er Fehler macht.

Vom Anpfiff an

An diesem Samstag aber ist alles anders. An diesem Samstag werden die Schiedsrichter der Begegnungen der Bundesliga vom Anpfiff an unter besonderer Beobachtung stehen. Denn der Skandal um den korrupten Kollegen Hoyzer hat das Vertrauen in die Überparteilichkeit des Unparteiischen so fundamental erschüttert, dass diesmal beide Parteien seine Entscheidungen anzweifeln dürfen.

Das große Raubtier

Mag sein, dass Vereine durch den Skandal um fingierte Spiele finanziell geschädigt sind – die Fans sind es emotional und ideell, weil ein korrupter Schiedsrichter nicht nur „ein Spiel verpfeift“, sondern das Spiel als solches ad absurdum führt. So sehr sich also Spieler, Trainer und Funktionäre mit Unterstellungen zurückhalten werden, so sehr wird das große Raubtier, der Fanblock, seinen Instinkten freien Lauf lassen – und singen.

Akustische Droh- („Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht!“) und Spottkulissen („Schiri, ans Telefon“) gehören zum Repertoire von Fangesängen, seit dieses kuriose Stammesritual 1966 in der Fankurve des FC Liverpool erstmals praktiziert wurde, parallel übrigens zur Erfindung der modernen Popmusik in den Clubs der gleichen Stadt.

Der Musikwissenschaftler Reinhard Kopiez hat das Phänomen untersucht und festgestellt: „Hohn und Spott sind die wichtigen kreativen Motoren bei den Fangesängen.“ Versuche im England der Siebzigerjahre, die singenden Fans von Dirigenten leiten zu lassen, wurden bald als sinnlos erkannt und aufgegeben. Der Gesang entzog sich dem Diktat „von oben“, es sang sich gewissermaßen selbst. „Das Wesen der Fangesänge ist, dass die Fans die selbst erfunden haben“, sagt Kopiez: „Das ist ihre eigene Welt.“

Ob die kollektive Kreativität und der Leidensdruck der Fußballfreunde groß genug ist, neue Fangesänge auf die Verfehlungen der Schiedsrichter zu prägen? Es dürfte am heutigen Spieltag kaum eine spannendere Frage geben.

„Steht auf …!“

Zumal das Ritual wirklich Neues nur sehr selten gestattet, wie die Geburt des Reimes „Steht auf, wenn ihr Schalker seid“ aus dem Geist der Pet Shop Boys belegt. Ein Fan erinnerte sich in der Süddeutschen Zeitung an diesen denkwürdigen Augenblick: „Bei irgendeinem Bundesligaspiel haben wir in Block 4 der Nordkurve den Countdown zur ,La Ola‘-Welle angestimmt. Nur die Ehrengäste hatten keine Lust aufzustehen. Da gingen einige Fans aus der Nordkurve rüber zur Ehrentribüne, stellten sich vor das Absperrgitter und riefen: ,Steht auf, wenn ihr Schalker seid‘. Da bewegte sich aber auch nichts. Also kamen sie zurück in die Nordkurve, und wir beschlossen, alle zusammen den Satz zu rufen. Immer noch nichts. Einer hatte dann plötzlich die Idee, den Satz in der Melodie von ,Go West‘ zu singen – und als dann Tausende von Fans ,Steht auf …‘ sangen, standen die Ehrengäste tatsächlich auf und waren begeistert.“

Diese Begeisterung für das gemeinsame Singen – nicht in Chor-, sondern Armeestärke – könnte sogar der verborgene Sinn von regelmäßigen Fußballspielen für ein großes Publikum sein. In einem Beitrag für die Zeitschrift Kosmos schrieb Kopiez: „Je besser die eigenen Gesänge im Stadion geraten, desto beglückter durchschreiten wir nach Spielende die Stadion-Ausgänge, selbst dann, wenn das Gekicke auf dem Rasen der Stimmung eher abträglich war.“

Wirklich sorgen aber müssen sich die Schiedsrichter wohl nicht, auch wenn sie aus vielen tausend Kehlen geschmäht werden sollten. Die Fans verschmelzen in rhythmischer Euphorie zu einem kollektiven Klang und folgen dem unbewussten Bedürfnis, in der Masse aufzugehen, um der Macht der Masse teilhaftig zu werden. In dieser Welt der rauschhaften Triebe hat ein Kontrollfunktionsträger wie der Schiedsrichter prinzipiell keinen Platz.