Eine deutsche Familiengeschichte

VON JAN FEDDERSEN

Die Nerven liegen seit jeher blank, wenn es ums öffentliche Grübeln zum Linksterrorismus geht. Zumal einige der letzten Anschläge und Morde nach wie vor der Aufklärung harren – und Protagonisten der zweiten Generation (jener Kader nach Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Holger Meins und Jan-Carl Raspe) noch im Gefängnis sitzen, Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar beispielsweise.

Aber ein Versuch lohnt immer, denn eben jene Nervosität, die das Thema birgt, scheint dauerhafter Art. So in etwa muss der Versuch aus dem Jahre 2002 begriffen werden, als mit Hilfe des 68er-Chronisten Wolfgang Kraushaar, der Berliner Kunst-Werke, der Bundeszentrale für politische Bildung und anderen eine Ausstellung zur RAF erarbeitet werden sollte – Mittel der Bundeskulturstiftung waren erbeten. Doch fand sich in einem Konzeptpapier ein Satz, der nicht nur die konservativ-populäre Publizistik in Wallung brachte: „Ausstellung mit blutrotem Faden“, hieß es in der FAZ. Inkriminiert war die Formulierung: „Welche Ideen, Ideale haben ihren Wert durch die Zeit behalten und können nicht als naiv abgetan werden?“

Die Wut gegen diesen Satz speiste sich aus mehreren Quellen. Die einen mokierten sich über die in ihm angebotene Möglichkeit, einen ideellen – vulgo: guten – Kern dessen, wofür der linke Terrorismus gestanden haben soll, in die Jetztzeit zu retten – wie es aus dem eher konservativen Lager hieß. Die anderen ereiferten sich über die Grauzone, die in dem Satz verborgen liegt. Dass nämlich die RAF sich von einem Zeitgeist beflügelt fühlte, der mit Antiimperialismus, Achtundsechzig und Aufstand gegen den Adenauer’schen Muff nur unzulänglich beschrieben ist – die Kritik stammt eher aus dem früher linksradikalen, grünen Milieu.

Zeit für Historisierung?

Übrig blieb, finanziell ermöglicht durch eine Kunstauktion bei eBay, eine Kunstausstellung. Ein Torso des Projekts – ursprünglich geplante Kolloquien und Tagungen zum, nun ja, Sujet RAF sind vertagt worden. Und dies liegt auch an Einwänden, die die Tochter von Ulrike Meinhof, Bettina Röhl, jüngst in der Zeit geltend machte. Ihr missbehagt die in puncto RAF klassische Zuwendung zu Tätern, die sich als Opfer gerierten – und die faktische Missachtung der Opfer, die, in der Sprache ihrer Mörder, „Charaktermasken“ des so genannten Schweinesystems waren. Die Ausstellung zeigt, so die Zeit, „wie die Kunst vom Terror überwältigt wird. Und von den Opfern lieber schweigt.“

Geäußert wird diese Kritik gern aus einer obskur anmutenden Perspektive, unter der einem der Kuratoren, Felix Ensslin – wie neulich im Berliner Tagesspiegel – vorgeworfen wird, zu seiner eigenen Betroffenheit – als Sohn Gudrun Ensslins und Bernward Vespers – zu schweigen. Dass der so Angegriffene sich dem Spiel verweigert, spricht für ihn. Was die Ausstellung selbst nicht relevanter macht: Kein Exponat kann die Reality-Show namens „RAF gegen Bundesrepublik feat. Deutscher Herbst“ von der Konservenhaftigkeit befreien, kann die vibrations in den linksradikalen Szenen der 70er, mehr noch, die existenzialistische Aufgeheiztheit der 60er, gerade in akademischen Jugendzirkeln, nachfühlbar machen.

Zeit für Historisierung? Immerhin hat, RAF-textexegetisch tätig geworden, Jan Philipp Reemtsma vorigen Herbst einen neuen Ton vor- und angeschlagen. Ohne Rücksicht auf die Gefühle von früheren RAF-Kadern, frei von dem Wunsch, in ihnen einen Teil der eigenen linken Geschichte erkennen zu wollen, erklärte der Philologe, es nütze nichts, unentwegt rätselnd dem Geheimnis der RAF auf die Spur zu kommen. In Wirklichkeit habe es keinen anderen Sinn als den Terror, als die Gewalt und den Willen zur Eskalation selbst gegeben.

Ihm sekundierend meinte der Publizist Gerd Koenen („Das rote Jahrzehnt“) ebenso in der Zeit über jenes Kompendium, in dem auch der Reemtsma-Text enthalten ist („Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF“, Hamburger Edition), dass die RAF eine solch mächtige Resonanz fand, habe an der „Selbstunsicherheit der bundesdeutschen Nachkriegsrepublik“ zu tun. Mehr noch: „Die Geschichte der RAF war ein integraler Teil des neurotischen ‚Familienromans‘ insgesamt, bis hin zum symbolischen Vatermord an Schleyer.“

Terroristen als Wiedergänger

So gesehen wäre eine Historisierung schon deshalb nicht wahrscheinlich, weil die Betroffenen noch leben. Und möglicherweise ahnt Koenen nicht, welche beißende Pointe in seinem Satz auch liegt. Dass nämlich in der RAF (und bei den mit ihr „klammheimlich sympathisierenden“ Linken) nicht der Antifaschismus zur Geltung kam, nicht die Frage nach der unzugegebenen Schuld der Nazi-Elterngeneration, sondern die Verachtung für die überlebenden Täter – die Verlierer. Auf der Agenda der RAF stand ja mehr der Kampf gegen den Zionismus, Kapitalismus und Amerika – am stärksten aber gegen die junge parlamentarische Demokratie namens Bundesrepublik, die für eine nur scheinbare gehalten wurde.

Insofern wird die RAF nicht als Kohorte von Aliens, von Unzugehörigen kenntlich, sondern als Wiedergänger. Gerade Ulrike Meinhof, in der RAF am glaubwürdigsten als Konkret-Kommentatorin wider die Renaissance des Völkischen, blieb in dieser Tragik befangen: ein Kind, das alles Nazistische hinter sich lassen wollte – und doch dessen Gegenentwurf, die Demokratie, nicht (an-) erkennen wollte. Sie ist ein Teil des deutschen Familienromans, wie auch Gudrun Ensslin, die mit ihrem früheren Lebensgefährten Bernward Vesper noch Anfang der Sechziger sich mühte, die Schriften des Nazischriftstellers Will Vesper neu zu edieren.

Familiengeschichten. Sie werden vorläufig nicht brodeln, sonst wären es keine. Vielleicht fangen jetzt, hörbarer, jene zu sprechen an, die der RAF-Aura in den Siebzigern am reglosesten, kältesten begegneten: viele aus der Generation von deutschen Kriegskindern, geboren zwischen 1930 und 1945, aus dem Gröbsten raus, den Bombenkrieg verdrängt. Sie wollten keine Eskalation, nur Normalität. „Es herrscht Ruhe im Land“ (Peter Lilienthals Film von 1975) – nach diesem Zustand sehnten sie sich. Sie identifizierten sich mit den Opfern der RAF, egal aus welcher Klasse, und hieß eines Schleyer. Sie wiesen alles ab, was nach Tod und Todesrisiko schmeckte – das hatten sie hinter sich. Die RAF ist eine deutsche Familiengeschichte; sie ist noch lange nicht begraben.